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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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wirklich seine Mutter gewesen?
    Die Beschreibung des alten Mannes passte durchaus auf sie. Für eine Frau sei sie recht groß gewesen, ihre Haut und ihr Haar eher dunkel, soweit das noch zu erkennen gewesen sei. Dass sie schön gewesen war, hatte der Alte nicht bestätigen können. Tiere hätten den teilweise verwesten Leichnam ausgegraben und das gefrorene Fleisch von den Knochen genagt. «Ausgegraben?», fragte Odo überrascht.
    Der Alte erzählte ihm, dass jemand Erde über den Körper geworfen hatte. Die Frau war demnach nicht allein gewesen.
    Nach einem Moment der stillen Andacht drehte sich Odo zu dem alten Mann um. «Was ist mit der Leiche geschehen?»
    «Wir haben sie verbrannt und ihre Asche ins Meer gestreut.»
    «Ihr Bauch   …», meinte Odo. «Ist euch an dem Bauch etwas aufgefallen?»
    Der Alte verstand nicht.
    «War die Frau schwanger?», fragte Odo.
    Der Alte schüttelte den Kopf.
    «Hatte sie irgendwelche Schmuckstücke bei sich? Einen Ring oder Armreif?»
    Der Alte wiegte den Kopf hin und her, als wäge er seine Antwort genau ab. War es eine Sünde, den Schmuck einer unbekannten Toten aufzubewahren?
    Dann sagte er schließlich: «An einem Finger der linken Hand steckte ein Ring.»
    Odo hob die Augenbrauen. «Würdest du mir diesen Ring zeigen?»
    Als er seine Mutter das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie zwei Ringe getragen, einen an der linken und einen an der rechten Hand. Odo verspürte plötzlich große Angst davor, mit dem Ring dieser Leiche konfrontiert zu werden – und damit womöglich mit der schrecklichen Wahrheit. Noch immer glomm ein Funken Hoffnung in ihm, dass seine Mutter nicht die tote Frau gewesen war. Vielleicht – ja, bei Gott, vielleicht! – hatte Ragnar sie ja doch mit nach England genommen, wo sie noch immer lebte.
    Der alte Mann führte Odo zurück ins Dorf und bat ihn in eine Hütte. Es war ein in den lehmigen Boden gesetztes Grubenhaus. Odo musste beim Abstieg den Oberkörperbeugen und den Kopf tief einziehen, um nicht gegen die Decke zu stoßen. An einem wärmenden Feuer in der Mitte des einzigen Raumes hockten ein Mann, eine Frau und sechs Kinder unterschiedlichen Alters dicht beieinander und starrten den jungen Mönch mit großen Augen an. Es stank fürchterlich nach Rauch. Niemand sprach ein Wort.
    Der Alte beugte sich zu dem Hausherrn hinunter und sprach mit gedämpfter Stimme auf ihn ein. Schließlich erhob sich der Angesprochene widerwillig. Er schlurfte zu einer Kiste, aus der er einen kleinen, glänzenden Gegenstand nahm und dem Alten reichte. Odo schluckte. Im Hintergrund hustete eines der Kinder.
    «Hier», sagte der Alte und hielt Odo auf seiner geöffneten Handfläche den Ring entgegen. «Aber er will ihn unbedingt zurückhaben. Er glaubt, das Schmuckstück sei sehr wertvoll.»
    Zitternd griff Odo nach dem Ring. Das Licht in dem Grubenhaus war zwar schlecht, aber es reichte aus, um Odo Gewissheit zu verschaffen. Die Erkenntnis bohrte sich wie eine glühende Lanzenspitze in sein Herz.
    Es gab keinen Zweifel mehr: Es war einer ihrer Ringe – und seine Mutter war die tote Frau in dem Wald gewesen.
    Als sich Odos Faust um das Schmuckstück schloss, starrte ihn der Hausherr grimmig an. Odo fischte aus seinem Beutel einige der Silbermünzen, die er dem Cellerar entwendet hatte. Die Miene des Mannes hellte sich auf, und er verkaufte dem Mönch den Ring.
     
    Als er das Dorf verließ, war die Dämmerung hereingebrochen. Der alte Mann hatte ihm angeboten, die Nachtin der Hütte zu verbringen, bei der Familie seines Sohnes. Aber Odo hatte abgelehnt. Er wollte allein sein mit seinen Gedanken.
    Er folgte dem Pfad, bis er wieder an die Küste kam. Dort lehnte er sich mit dem Rücken gegen eine windschiefe Birke und lauschte den Geräuschen der nachtschwarzen Brandung, fröstelnd vor Kälte und Angst. Die Wellenschläge hallten wie Schreie in seinen Ohren wider.
    Der Verderber lacht über mich, dachte er und erschauerte.
    Doch je länger er den Stimmen der Nacht lauschte, desto mehr wandelte sich das Entsetzen über die bittere Gewissheit, dass seine Mutter tot war, in Wut, ja, in blanken Hass. Dieses Gefühl verdrängte die eisige Kälte aus seinem Bewusstsein, und in seinem Inneren begann ein Feuer zu brennen. Das Feuer der Rache.
    Ich bin Gottes Knecht – und Gottes Schwert, dachte er und bekreuzigte sich. Ragnar Loðbrœk war zwar tot, aber das galt nicht für den Verderber. Odo war überzeugt, dass der Normannenhäuptling dem Teufel nur als menschliche Hülle

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