Das Buch der Sünden
Weib, das mit beiden Händen ihr Kopftuch festhielt, rief nach ihm.
«Tu es nicht, Junge», rief die Alte gegen den brausenden Sturm an. «Es ist eine Sünde!»
Odo trat von den Wellen zurück. Seine Hosenbeine waren bis zu den Knien durchnässt.
«So ist es besser», sagte die Alte. «Allein der Herr bestimmt den Zeitpunkt des Todes. Es verstößt gegen göttliches Recht, sich selbst zu richten.»
Odo musterte die Frau. Ihr Körper war gebeugt und ihr Gesicht faltig und voller Warzen. Er hatte nicht erwartet, in dieser wilden Gegend eine Christin anzutreffen. Zumeist beteten die Menschen hier noch ihre alten heidnischen Götzen an, die sie Wotan oder Donar nannten.
«Wohnst du hier?», fragte Odo.
«Schon mein ganzes Leben. Ich kenne jeden Mann, jeden Hund und jeden Baum. Aber dich habe ich hier noch niemals gesehen.»
«Ich komme aus einer großen Stadt. Sie heißt Paris.»
Die Alte schaute ihn an, als höre sie diesen Namen zum ersten Mal.
Odo fragte: «Kannst du mir sagen, Frau, ob in dieser Gegend hin und wieder Menschen an die Küste geschwemmt werden?»
Ihr Gesicht verhärtete sich. Ein misstrauischer Blick traf Odo.
«Ich meine Menschen, die ohne Absicht über Bord gehen», sagte Odo schnell. «Fischer, oder vielleicht Seeleute. Keine Selbstmörder.»
«Das kommt vor», sagte die Alte.
«Auch Frauen?»
«Nein. Nur Selbstmörderinnen.» Das letzte Wort spie sie mit großer Verachtung aus.
Odo wandte sich wieder dem Meer zu. Da riss ihm eine Böe die Kapuze vom Kopf. Die Alte stieß einen spitzen Schrei aus, als ihr Blick auf Odos noch nicht nachgewachsene Tonsur fiel.
«Ihr seid ein Mönch! Gelobt sei der Herr.» Ihre Stimme klang nun sehr viel freundlicher. «Kommt mit in mein Dorf. Wir sind zwar arm, aber einem Diener Gottes geben wir mit vollen Händen.»
Odo winkte ab. «Ich will nur wissen, ob vor etwa fünfzehn Jahren irgendwo in dieser Gegend eine Frau angespült worden ist.»
«Nein. Davon hätte ich erfahren. Wen sucht Ihr denn?»
«Meine Mutter.»
«Das tut mir leid.»
«Lass mich nun bitte wieder allein, Frau.» Odo kehrte der Alten den Rücken zu.
Doch sie blieb an seiner Seite. «Darf ich Euch noch einmal anschauen?», fragte sie nach einer Weile vorsichtig.
Odo drehte ihr sein Gesicht zu.
«Eure Haut ist dunkler als die der meisten Menschen hier.»
«Hm.»
«Vor fünfzehn Jahren, sagtet Ihr?»
Odo schaute sie fragend an.
Die Alte schien nachzudenken. «Es war ein harter Winter, in jenem Heilagmanoth im Jahr des Herrn 846. Männer aus einem Nachbardorf haben damals eine unbekannte Frau entdeckt. Aber nicht im Wasser, sondern im Wald.» Sie wies in westliche Richtung. «Nicht weit entfernt von hier, sieben oder acht Meilen.»
«Wie sah sie aus?», fragte Odo.
«Es hieß, sie habe dunklere Haut gehabt als die Menschen von hier.»
«Und ihre Haare? Waren sie lang und schwarz?»
Die Alte zuckte mit den Schultern.
«Hat … hat sie noch gelebt?»
«Nein. Der Winter, versteht Ihr. Sie war ganz steif gefroren.» Die Alte wies abermals nach Westen. «Es wird das Beste sein, Ihr sucht jene Menschen auf, die die Frau damals gefunden haben.»
Sie erklärte Odo den Weg zu dem Dorf, einer Ansammlung von einem halben Dutzend Holzhütten. Die Menschen dort seien sehr misstrauisch, besonders Fremden gegenüber. Wenn er sich aber auf sie berufe, werde man ihm weiterhelfen.
Sie nannte Odo ihren Namen, und er dankte ihr.
Der älteste Bewohner des Dorfes, ein wortkarger, hagerer Mann, führte ihn zu der Stelle, an der man damals die Leiche entdeckt hatte. Es war zwar erst Nachmittag, doch unter dem dichten Blätterdach hatte sich bereits die Walddunkelheit ausgebreitet. Die Luft duftete nach Moos und feuchtem Laub. Durch die Äste der Buchen und Birken heulte der Wind.
Der Alte bewegte sich geschickt durch das Unterholz. Odo hatte Mühe, ihm zu folgen. Schließlich blieb der Mann stehen. Er deutete auf eine kleine Lichtung, die mit Farnkraut bewachsen war. Umgekippte Bäume lagen kreuz und quer auf dem Erdboden.
«Da vorne hat sie gelegen», murmelte der Mann, während er Odo am Ärmel hinter sich herzog.
Odo beugte sich über einen alten Baumstamm. Dahinter befand sich eine kleine Erdmulde, die mit Laub und trockenen Zweigen gefüllt war. Nichts deutete nach all den Jahren darauf hin, dass hier ein Mensch gelegen haben könnte.
Er versuchte sich vorzustellen, wie jemand an diesem Ort seine letzten Tage verbracht hatte. Allein. Hungernd, frierend. Aber war es
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