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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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ebenso guter Trinker wie Geschichtenerzähler war. Gebannt hingen die Menschen an seinen Lippen. Der Abend schritt voran, und in dem Maße, in dem sich das Bierfass leerte, wurde die Stimme des Priesters lauter und seine Worte mahnender und eindringlicher.
    Mit donnernder Stimme und Bierschaum im Bart berichtete Aaron vom heiligen Antonius, der einst in der Nitrischen Wüste, jenseits des Mittelländischen Meeres, das Leben eines Eremiten geführt und sich in einer einsamen Höhle den Versuchungen der menschlichen Laster erwehrt habe. Die Spannkraft von Antonius’ Seele sei indem Maße gewachsen, in dem die Begierden seines Körpers ohnmächtiger wurden. In der Nähe zu Gott habe der Heilige gelernt, den Dämonen der Sünde zu widerstehen. Er habe in ihnen den Teufel erkannt, in seinem ganzen verheerenden Ausmaß.
    «Denn der Teufel ist der Vater aller Sünden!», wetterte Aaron.
    Der Teufel ist der Vater aller Sünden!,
wiederholte Odo in Gedanken. Gierig saugte er jedes Wort auf, das aus Aarons Munde kam.
    Wer die Sünden vernichtet, der überwindet den Teufel, dachte Odo.
    Dann dämpfte Aaron plötzlich seine Stimme, als habe er Angst, jemand könne von draußen lauschen. Odo und die Dorfbewohner rückten näher heran. «Es existiert eine heilige Schrift», sagte der Priester in verschwörerischem Ton. «In dieser Schrift wird die Vernichtung all jener Dämonen beschrieben, die den heiligen Antonius bedrängten und die die Geißel der Menschheit bedeuten. Es sind die   …» Nach einem großen Schluck Bier fuhr er flüsternd fort: «Es sind die sieben Kapitallaster – die auch die sieben Todsünden genannt werden. Doch nur ganz wenige Menschen wissen von der Existenz dieses Buches, das an einem geheimen Ort versteckt gehalten wird. Es soll sich in einer Bibliothek befinden. Habe ich gehört.»
    Aaron hielt den leeren Becher in die Höhe, und sofort wurde ihm nachgeschenkt. Doch zu Odos Enttäuschung ging der Priester nicht weiter auf dieses geheimnisvolle Buch ein, sondern sprang plötzlich schwankend auf und setzte, beide Fäuste fest auf die Tischplatte gestützt, zum Höhepunkt seiner Predigt an: «Gott wird sich erheben. Seine Feinde werden sich zerstreuen, und die, die ihn hassen,werden vor ihm fliehen! Wie Rauch verschwindet, so sollen sie verschwinden. Wie das Wachs schmilzt vor dem Feuer, so werden die Sünder vergehen vor dem Angesicht Gottes   …»
    Atemlose Stille breitete sich in der Hütte aus. Alle Anwesenden starrten den Priester an, dessen Augen sich mit einem Mal in den Höhlen zu drehen begannen. Dann war von den Augäpfeln nur noch das Weiße zu erkennen, und er kippte hintenüber, prallte mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf und blieb regungslos liegen.
    Aber seine Worte hallten in Odos Ohren nach.
    Der Teufel, die Sünden, die Dämonen   …
    Das geheime Buch!

6.
    Der Winter ging vorüber. Mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen kündigte sich der Frühling des Jahres 862 an. Als der letzte Schnee getaut war und die Waldwege wieder passierbar waren, zog der Priester weiter. Auch Odo fragte sich, wohin er nun gehen sollte.
    Die Antwort traf kurz darauf in Form einer Gruppe von Mönchen im Dorf ein. Es waren fünf Diener Gottes, die zu Fuß das Kloster Corbie verlassen hatten. Auf dem Rücken eines Esels führten sie eine Holzkiste mit sich.
    Als Odo von der Ankunft der Mönche erfuhr, ging er zu der Hütte, in der sie Unterschlupf für die Nacht gefunden hatten. Er stellte sich als ein Bruder aus dem Kloster Saint Geneviève vor und fragte sie nach dem Ziel ihrer Reise.
    «Wir sind auf dem Weg zu der alten Römerstadt Colonia, um diese Kiste römischen Legaten zu übergeben,die damit ins Kloster Sankt Gallen weiterreisen werden», antwortete einer der Mönche. Es war ein ergrauter Dekan mit irischen Wurzeln, der auf den Namen Murcherat hörte.
    Ein Blitz durchzuckte Odo. Sofort erinnerte er sich an Aarons Worte über das Buch, in dem die Vernichtung der Sünden beschrieben wurde. Und dann dachte er an die sagenumwobene Bibliothek Sankt Gallens. Wo, wenn nicht dort, würde er die geheime Schrift finden?
    Das war das Zeichen! Gott hatte ihm diese Brüder geschickt, damit sie ihn in das Kloster führten – und somit zu dem Buch!
    Als er die Mönche bat, sie begleiten zu dürfen, legte sich ein Schatten über Murcherats Gesicht. Er schien es bitter zu bereuen, Odo das Reiseziel verraten zu haben. Auch die anderen Mönche verzogen die Mienen.
    «Das geht nicht», widersprach

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