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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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Murcherat.
    Odo schaute ihn verdutzt an. «Aber ihr seid doch Mönche, vom Orden des heiligen Benedikt – so wie ich. Wir sind Brüder im Glauben, warum   …»
    Murcherat brachte ihn mit einer energischen Handbewegung zum Schweigen. «Also gut», knurrte er. «Aber halte dich von der Kiste fern.»
    Odo schaute den Alten fragend an.
    «Das geht dich nichts an!», zischte der Dekan. Damit war das Gespräch beendet.
     
    Die Mönche brachen im Morgengrauen auf.
    Weil Odo befürchtet hatte, sie könnten doch ohne ihn weiterziehen, hatte er die ganze Nacht kein Auge zugetan. Bereits am Vorabend hatte er sich im Dorf bei seinen Lebensrettern für alles bedankt, was sie für ihn getan hatten.Dann hatte er sich vor dem schmalen Fenster in der Hütte des Dorfältesten auf die Lauer gelegt, um den Aufbruch der Mönche nicht zu verpassen.
    Missmutig empfing ein verschlafener Murcherat den Bruder aus Saint Geneviève. «Bleib vom Esel und der Kiste weg», befahl er erneut in scharfem Ton.
    Odo nickte, und während des gesamten Marschs hielt er gehorsam einen Abstand von mindestens zwanzig Schritt zu dem Tier. Er fragte sich, was es mit dieser geheimnisvollen Lieferung auf sich hatte. Aber viel mehr freute er sich über die Gelegenheit, in Gesellschaft reisen zu können – und zwar nach Sankt Gallen!
    Sie zogen ostwärts durch das Frankenreich, durchquerten Lotharingen und erreichten am Ende des Monats
aprilis
die alte, von den Römern erbaute Steinstadt Colonia. Ohne Umschweife führte Murcherat die Gruppe zum Rheinhafen hinunter.
    Nach einer Weile kehrte er in Begleitung zweier prächtig gekleideter, älterer Männer zurück. Der eine, Gunther, war kleinwüchsig und aufgedunsen, der andere, Radoald, von längerer, hagerer Statur. Sie stellten sich als Legaten, als Gesandte des römischen Papstes Nikolaus, vor und erkundigten sich sofort nach der Kiste aus Corbie.
    Odo war beeindruckt. Der Inhalt erschien ihm immer geheimnisvoller, wenn sogar der Papst seine Männer danach ausschickte. Und die Gesandten waren nicht allein in den Norden gekommen, sondern reisten in Begleitung von einem Dutzend schwerbewaffneter römischer Soldaten.
    Zwei dieser Soldaten trugen die Kiste auf das Schiff, das an einer der Landebrücken festgemacht hatte. Doch einer der Männer stolperte, und der Holzkasten rutschte ihm ausder Hand, knallte auf die Brücke, und der Deckel sprang auf. Die Legaten und die Mönche, allen voran Murcherat, stießen entsetzte Schreie aus, als sich der Inhalt über die Bohlen verteilte.
    Odo riss die Augen auf. In der Kiste befanden sich Bücher und Urkunden. Bevor er jedoch nach einem der Bücher greifen konnte, zogen die Soldaten ihre Schwerter und riegelten die Landebrücke ab. Hastig verstauten die Mönche die Schriften wieder in der Kiste und verschlossen sie.
    Während die Schiffsmannschaft kurz darauf alles für die Abreise vorbereitete, verabschiedeten sich Murcherat und die anderen Mönche von den Legaten, um die Heimreise nach Corbie anzutreten. Es war offensichtlich, dass sie froh darüber waren, die Last dieser Lieferung los zu sein.
    Odo hingegen hatte die Neugier gepackt. Welche Geheimnisse bargen die Bücher, wenn sie unter einen solchen Schutz gestellt werden mussten? Und wie viele geheimnisvolle Schriften würde es noch in der großen Bibliothek von Sankt Gallen geben?
    Odo war überzeugt, dass er in Sankt Gallen Antworten finden würde auf seine Fragen – und nur dort!
    Er bot sich dem Schiffsführer als Rudermann an, und da noch eine tüchtige Hand an Bord fehlte, erhielt er den Zuschlag für die Mitfahrt, stromaufwärts, nach Süden, dem Kloster Sankt Gallen entgegen.

7.
    Sankt Gallen.
    Odo hielt andächtig inne, als er die beiden Türme der Kathedrale erblickte. Sie erhoben sich weithin sichtbar am Ende eines staubigen Pilgerweges über die von Eichenwäldern umgebene Klosteranlage. Eine eigentümliche Stille lag über diesem Ort, als ginge von dem Kloster eine Kraft aus, die selbst den Wind verstummen ließ.
    Sie sind hier, dachte Odo. Die Worte, die Gott mir eingeben will – sie sind hier!
    Neben dem Pfad, der zum Kloster führte, plätscherte ein Flüsschen dahin. Odo schöpfte eine Handvoll Wasser in sein vom Laufen erhitztes Gesicht. Nachdem er mit den Legaten an Land gegangen war, hatten sie sich Pferde besorgt und waren mit den Soldaten und der Kiste vorausgeritten. Odo war den abweisenden Männern, die niemanden in ihre Nähe ließen, zu Fuß gefolgt, da er sich kein Pferd leisten konnte.

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