Das Buch der Sünden
Drei Tage war er marschiert und hoffte inständig, dass die Legaten noch nicht nach Rom weitergezogen waren.
Der Weg führte Odo geradewegs zum Portal der großen Kirche, einer dreischiffigen Basilika mit den beiden freitragenden Türmen, die das Zentrum der Anlage bildete. Odo stellte fest, dass es keine Pforte gab, die den Besuchern den Zutritt zur Kirche hätte verwehren können. Er kam an Stallungen vorbei, in denen die Mönche Schafe, Ziegen, Schweine und Rinder hielten. Unterhalb der Kirche, in südlicher Richtung, befanden sich weitere Versorgungsgebäude wie Getreidespeicher, Werkstätten, Bäckerei und die klostereigene Brauerei.
Odo trat vor den Eingang der Kirche.
Als er ein Geräusch hörte, drehte er sich um. Er bemerkte einen jungen Mönch, der mit einem Bündel Schafwolle beladen aus einem der Ställe kam. Sein Haarkranz war blond, der Blick klar und offen.
Odo trat zu ihm und sprach ihn an: «Gott zum Gruß, Bruder. Ich bin fremd. Bitte nehmt mich auf.»
Der Mönch legte die Wolle auf dem Boden neben dem Stall ab. «Wie lautet Euer Name, F-f-fremder?»
«Odo von Lutetia. Ich bin ein Bruder aus dem Kloster Saint Geneviève. Es liegt im Westen, bei der Stadt Paris.»
Der Mönch nickte. «Ich heiße N-n-notkar. Notkar Balbulus, auch genannt der St-st-stammler. Ihr seht aus, als könntet Ihr ein Bad und eine Rasur vert-t-tragen.»
Odo strich sich über den struppigen Bart.
Notkar geleitete ihn zum Pförtner, dessen Wohnung sich an der Nordseite der Kirche befand. Nachdem Notkar mehrfach laut gegen die Tür geklopft hatte, wurde sie von einem älteren Bruder geöffnet, dessen verquollene Augen verrieten, dass er gerade geschlafen hatte. Notkar stellte Odo als Ordensbruder vor, doch der Pförtner schüttelte mürrisch den Kopf.
«Die für reisende Ordensbrüder vorgesehene Wohnung ist belegt», sagte er. «Er soll ins Pilgerhaus gehen.»
Bevor er die Tür wieder schloss, konnte Odo sehen, dass der Schlüssel für die Pforte neben der Tür an einem Wandhaken hing.
«Tut mir l-l-leid», meinte Notkar, als sie wieder allein waren. «Gestern erreichte uns eine Gesandtschaft des P-p-papstes!»
Notkar deutete zu einem Gebäude hinüber, das sichgegenüber der Pförtnerwohnung befand. Er dämpfte die Stimme: «Die L-l-legaten wohnen in diesem Haus. Ihre Soldaten haben nebenan die Sch-schule belegt sowie die Wohnung des Lehrers und die für die reisenden B-b-brüder.»
Er machte mit ausgebreiteten Armen eine entschuldigende Geste. «Ich bringe Euch zum Pilgerhaus. Es befindet sich auf der anderen Seite der K-k-kirche.»
Aber Odo rührte sich nicht. «Erlaubt mir eine Frage, Bruder Notkar.»
«Hm?»
«Ich habe Geschichten gehört über Euer wundervolles Skriptorium und Eure Bibliothek. Ihr müsst wissen, Bruder, dass diese Bibliothek der Grund ist, warum ich nach Sankt Gallen gereist bin.»
Stolz spiegelte sich auf Notkars Gesicht. «So, so, G-g-geschichten erzählt man sich über uns.»
Odo nickte. «Wäre es wohl möglich, die Bücher Eurer Bibliothek zu studieren?»
«Nun, darüber müssen die Kl-kl-klosteroberen entscheiden. Ich werde sie befragen.»
«Wann?»
Notkar hob die Augenbrauen. «Warum habt Ihr es damit so ei-ei-eilig?»
«Weil … weil ich so neugierig bin. Man hat mir wahre Wunderdinge von den Schätzen hier erzählt.» Etwas Besseres war Odo auf die Schnelle nicht eingefallen. Schließlich konnte er nicht den wahren Grund seines Besuchs verraten.
Notkar grinste. Er warf einen Blick auf die Wohnung des Pförtners, doch der hatte sich vermutlich wieder hingelegt, anstatt die Pforte zu bewachen.
Daher gab Notkar Odo einen Wink und drückte die Pforte auf. «Sie ist nur bei Nacht v-v-verschlossen», flüsterte er verschwörerisch.
«Viel Hoffnung mache ich Euch aber n-n-nicht», meinte er, während sie an der Kirche entlanggingen. «Es ist bald Zeit für die Komplet, und nach dem Tagesabschluss darf niemand mehr die B-b-bibliothek betreten.»
Als sie an der Schule vorbeikamen, hörte Odo laute Stimmen und Gelächter. Ungewöhnliche Geräusche in einem Kloster, das ein Ort der Stille und Andacht sein sollte, dachte Odo.
Notkar zog ein säuerliches Gesicht. «Das sind die Soldaten. Bestimmt sind sie b-b-betrunken.»
Sie hatten nun die rückwärtige Seite der Kathedrale erreicht. In einem steinernen Anbau zwischen dem Ostchor und dem Querschiff der Basilika waren das Skriptorium und darüber die Bibliothek untergebracht. Dem Anbau gegenüber befand sich das Haus mit den
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