Das Buch der Sünden
siegreichen Schlacht erhalten und natürlich auch einen Anteil an der Beute aus dem Ranentempel.
Dass die Dänen den Kampf gewinnen würden, daran zweifelte niemand an diesem herrlichen Morgen in Haithabu, an dem die Frühlingssonne vom blassblauen Himmel schien. Der Schnee war längst geschmolzen, der Slienfjord wieder eisfrei. Der Wind wehte kraftvoll aus westlicher Richtung – es war der Fahrtwind in den Sieg.
Männer, Frauen und Kinder jubelten den Kriegern zu. Selbst Greise, die keine Schwerter mehr führen konnten, brüllten:
«Sikr! Sikr!»
Sieg! Sieg!
Mit reicher Beute würden die Krieger zurückkehren. Die geschundene Stadt hatte die Schätze bitter nötig, damit Haithabu nach der Feuerkatastrophe seine alte Bedeutung als Tor zwischen den Welten im Norden und Süden wiedererlangen konnte.
«Sikr! Sikr!»
Die Krieger auf den Schiffen antworteten den Jubelnden, indem sie mit Schwertern und Beilen auf ihre Schilde trommelten.
Und in das Schlachtengetöse mischte sich der Klang der Kirchenglocke.
Als Odo sah, dass Folke weinte, kniete er vor dem Knabenauf der Landebrücke nieder und wischte ihm mit einer väterlichen Geste die Tränen von den Wangen.
Folke schaute ihn aus geröteten Augen an. «Werdet Ihr zu uns nach Haithabu zurückkehren?»
Odo lächelte sanft. «Das, mein Sohn, liegt allein in der Hand des Allmächtigen.»
Er entnahm seiner Tasche ein kleines Silberkreuz, das an einem Lederband hing. «Trage es immer bei dir. Dann wird der Herr dich am Jüngsten Tag, zur Wiederkunft Christi, als einen der Seinen erkennen.»
Folke neigte den Kopf, damit Odo ihm das Kreuz umlegen konnte.
«Nun gehe hin zu deinen Brüdern», sagte Odo und erhob sich. «Ich werde dich niemals vergessen. Und glaube mir: Wir werden uns wiedersehen in einer neuen Welt. In einer Welt, in der Gott seinen Platz hat.»
Folke schluckte schwer.
Odo küsste ihn auf die Stirn, schulterte seine Tasche, in der sich die Holzkiste befand, und ging zu einem der Langschiffe, auf dem er bereits erwartet wurde. Ingvar stand im Heck bei dem blonden Ranenmädchen und der Sklavin, deren Übersetzungsdienste Odo weiterhin benötigen würde.
Jarl Egil fuhr auf einem anderen Schiff. Es war eine prächtige Skeið, ein Langschiff, das er
hárknífr
genannt hatte – Rasiermesser. Nachdem Odo an Bord gegangen war, gab Egil das Zeichen zum Aufbruch. Sein Schiff führte die Flotte an. Odo fuhr auf dem zweiten Schiff in der Reihe, in der die Kriegsschiffe hintereinander wie an einer Perlenkette den Hafen verließen. Kräftige Ruderschläge ließen das braune Wasser des Slien schäumen, die hölzernen Drachenköpfe zogen in den Kampf. Nachdemdie Flotte das Noor hinter sich gelassen hatte, schwenkte sie nach Osten in den Fjord, um Kurs zu nehmen auf das Baltische Meer.
Žiliška starrte mit versteinerter Miene ins Wasser. Eine blonde Strähne hatte sich aus ihrem Haarknoten gelöst und bewegte sich im Wind.
Odo beobachtete Žiliška von der Seite. Ihr Wesen war ihm ein Rätsel geblieben. Er hatte noch ein Mal mit ihr gesprochen, wobei sie ihm bereitwillig alle seine Fragen nach der Tempelburg und den günstigsten Anlandeplätzen in der Nähe beantwortet hatte, doch ansonsten waren die beiden Frauen unter sich geblieben.
Nach einer Weile wandte sich Odo von dem Mädchen ab. Warum sollte er sich über das eigenartige Geschöpf den Kopf zerbrechen? Sie war eine Heidin, und sie würde bald ihrer gerechten Strafe zugeführt werden, so wie alle anderen Ungläubigen.
Die Schiffe glitten an ausgedehnten Schilfwiesen und dichten Wäldern vorbei. In der Luft lag der angenehme Duft des Frühlings. Die Welt erwachte aus ihrem Winterschlaf.
In wenigen Tagen würden sie Rujana erreichen.
«Und siehe», flüsterte Odo in den Wind, «ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte.»
TEIL VI
Rujana
Frühjahr 864
Und der sechste Engel goss aus seine Schale
auf den großen Wasserstrom Euphrat,
und sein Wasser vertrocknete,
damit den Königen vom Aufgang der Sonne der Weg bereitet würde.
Offenbarung des Johannes 16, 12
1.
Wie ein Heer dunkler Schattenkrieger jagten graue Regenwolken von Westen heran. Unaufhaltsam wurden sie vom Sturmwind an der Küste des Baltischen Meeres entlang auf Arkona zugetrieben.
Damek fluchte, als er am frühen Nachmittag zusammen mit Helgi nach einem langen Ritt den Waldrand erreichte. Ungebremst toste der Wind über die weite Küstenebene, an deren Ende sich dunkel und drohend die
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