Das Buch der Sünden
Soldaten lamentierend zurück.
Odo schabte und schabte. Bald hatte er rings um die Halterung mehrere tiefe Kerben in das Holz geritzt. Als er glaubte, sie ein wenig gelöst zu haben, holte er aus dem Schreibraum eine weitere Leiste. Dieses Mal gab das Schloss ein wenig nach. Das Holz knirschte und knackte. Dann riss die Halterung mit einem lauten Knall von der Kiste ab. Odo öffnete den Deckel, griff nach dem zuoberst liegenden Buch und ging damit zu einem Fenster.
Der Mond war beinahe hinter der östlichen Kirchenmauer verschwunden, sodass das Licht bald verlöschen würde.
Mit pochendem Herzen schlug Odo das Buch auf.
Alaetheia Apokalypsis,
stand auf der Aufschlagseite und darunter die lateinische Übersetzung: Die wahrhaftige Offenbarung.
Ihm wurde schwindelig.
Er war versucht, darin zu lesen, um die Worte aufzunehmen, wie ein Verdurstender, der sich an einer sprudelnden Quelle labt. Noch schien der Mond, und die Soldaten waren nirgendwo zu sehen.
Nur einen Blick wollte er darauf werfen, nur einen ganz kurzen Blick. Doch je mehr er las, desto mehr zog ihn die Schrift des heiligen Johannes in ihren Bann. In Paris hatte der Priester Jakob aus dem Text zitiert, und auch in Saint Geneviève hatte es natürlich eine Ausgabe der Offenbarung gegeben. Aber diese hier war anders.
Die Offenbarung war die Prophezeiung der Wiederkunft Christi, die Verkündung einer neuen Welt, in der allen Gläubigen eine herrliche Zukunft gegeben ist und in der der Verderber in den Schwefelsee geworfen und vernichtet wird.
Odo überflog die ersten Seiten.
Der Prophet richtete seine Worte, die Jesus ihm eingegeben hatte, an die sieben Gemeinden. Er sah das Lamm, das Jesus war, ein Buch mit sieben Siegeln öffnen. Sieben Engel ließen sieben Posaunen erklingen. Die sieben Zornschalen Gottes wurden auf der Erde vergossen; sieben große Katastrophen plagten die Menschen, und dann wurde die auf sieben Hügeln errichtete Hure Babylon zerstört.
Odo las fieberhaft weiter.
Das glückliche Ende kündigte sich an. Christus ging als Sieger hervor aus dem Kampf gegen den Teufel. Der Verderber wurde für eintausend Jahre in den Abgrund verbannt. Doch nach dieser Frist kehrte er aus der Tiefe zurück, verführte die Heidenvölker, und man rüstete zur letzten Schlacht. Heiden, so viele wie Sand am Meer,zogen gegen die heilige Stadt, gegen Jerusalem. Doch der Herrgott ließ Feuer regnen. Die Heiden wurden vernichtet. Gott hielt Gericht, und die neue, himmlische Erde … sie kam … nein, sie kam nicht!
Odo stockte. Er las die Stelle noch einmal. Niemals zuvor hatte er diese Worte in der Offenbarung gesehen.
Schweiß trat ihm auf die Stirn. Das also war es, was die Legaten entsetzt hatte. Den Worten des Propheten war etwas hinzugefügt worden, obwohl dieser selbst in der Schrift eindringlich davor gewarnt hatte.
Odo las die Worte ein drittes Mal, und ihm war, als sauge ihn eine unsichtbare Macht in die Schrift, als stoße sie ihn in einen Kampf mit den Dämonen.
Hier, in dieser Schrift bekamen sie Namen. Hier nahmen die Feinde Gottes Gestalt vor Odos geistigem Auge an. Hier wurden sie beinahe greifbar:
Der Dämon
Avaritia,
der Geiz;
der Dämon
Acedia,
die Trägheit;
der Dämon
Gula,
die Völlerei;
der Dämon
Luxuria,
die Wollust;
der Dämon
Ira,
der Zorn;
der Dämon
Invidia,
der Neid.
Und der Dämon
Superbia,
der der Teufel selbst war – der Hochmut, die Erhabenheit über Gott.
Sieben Dämonen. Sieben Sünden.
Die Todfeinde der Menschheit, der Glückseligkeit, des Friedens, der Freiheit und der Sicherheit.
Odos Herz raste. Taumelnd vor Glück, klappte er das Buch zu. Endlich hatte er es gefunden. Endlich besaß er ein Werkzeug, mit dem er dem Verderber gegenübertreten konnte. Nun schien alles klar, als habe sich ein Schleier gelichtet.
Es war Odos Bestimmung, den Teufel zu vernichten, den der Herr ihm in menschlicher Gestalt gezeigt hatte. Nun war die Zeit der Vergeltung gekommen. Gott hatte ihn zu der wahrhaftigen Offenbarung geführt, in der der Prophet beschrieben hatte, wie die Dämonen zu vernichten seien, einer nach dem anderen, und der Verderber zuletzt.
Dann würde die Prophezeiung wahrhaftig werden.
Odo rannte die Treppe hinunter, ohne auf die knarrenden Stufen zu achten. Er verstaute das Buch in einer Tasche, die auf einem der Schreibpulte lag, und hängte sie sich über die Schulter. Behutsam drückte er die Tür auf.
In der Schule, gegenüber der Kirche, schimmerte Licht durch einen halb geöffneten
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