Das Buch der Sünden
Wohnungen der Klosteroberen: Dort wohnten der Abt, der Prior sowie der Subprior.
Notkar bat Odo zu warten und verschwand im Abthaus.
Odo schaute sich um. Die Tür zum Skriptorium stand einen Spalt weit offen. Schnell riskierte er einen Blick in die Schreibstube, die alles bot, was die Mönche zum Fertigen ihrer kunstvollen Schriften und Zeichnungen benötigten. Es gab große Fenster und ein gutes Dutzend schräge Schreibpulte, die Arbeitsplätze der Skribenten. An der gegenüberliegenden Wand standen Tische für die Vorbereitung der Pergamente. Hier wurden die Tierhäute nachgeschliffen, kalziniert, zugeschnitten und schließlich liniert. Es gab mehrere Regale, in denen sich Pergamentrollenund Lagenpakete stapelten und wo Werkzeuge, Schreibgeräte, Tinten und Farben aufbewahrt wurden.
Auf der anderen Seite der Schreibstube entdeckte Odo eine Holztreppe, die in einen darüberliegenden Raum führte – in die Bibliothek.
In dem Moment hörte er hinter sich eine Tür zuschlagen und zog sich schnell vom Skriptorium zurück.
In Notkars Begleitung war ein dunkelhaariger Mönch von großer, hagerer Statur, dessen schwarze Kutte darauf schließen ließ, dass es sich um einen der Oberen handelte. Der Mann hatte eine vorspringende, hakenförmige Nase und dunkle stechende Augen. Seine schmalen Lippen waren fest zusammengepresst. Er verzog keine Miene, während er Odo eingehend musterte. Das Äußere des Mannes erinnerte Odo an einen Habicht. Odo verbeugte sich, küsste den Ring des Mönchs und trat wieder einen Schritt zurück.
Die Lippen des Mannes bewegten sich steif. «Mein Name lautet Raban Bibliothekarius. Ich bekleide das Amt des Subpriors von Sankt Gallen. Und wie heißt der Peregrinus?»
Odo stellte sich vor. Im Stillen ärgerte er sich darüber, dass er sich vor dem Betreten des Klosters nicht ordentlich zurechtgemacht hatte. So heruntergekommen, wie er aussah, musste er als
peregrinus,
als Fremder, unweigerlich Argwohn wecken.
«Bruder Notkar meint, du möchtest die Bücher unserer Bibliothek studieren», sagte Raban. Seine Stimme war kalt wie ein Wintermorgen.
«In Saint Geneviève, woher ich stamme, besitzen wir nur eine kleine Bibliothek», antwortete Odo. «Ich habealle diese Bücher gelesen. Mein Geist dürstet nach mehr Wissen.»
«Wissen, hm?» Raban machte keinen überzeugten Eindruck. «Ich allein besitze die Oberaufsicht über die Bibliothek. In drei Tagen soll der Peregrinus mich erneut aufsuchen. Dann werde ich über sein Ersuchen entscheiden. Bis dahin soll der Gast im Pilgerhaus verweilen.»
Im Weggehen sagte Raban zu Notkar: «Sorge dafür, dass man ihm den Bart abnimmt. Er sieht aus wie ein Strauchdieb.»
Odo badete vor dem Pilgerhaus in einem Zuber mit kaltem, dreckigem Wasser, in dem sich zuvor Dutzende Pilger gewaschen hatten. Anschließend nahm er seinen Bart im Schein einer Tranlampe ab. Dafür benutzte er ein scharfes Rasiermesser, das Notkar ihm geliehen hatte.
Büschelweise rieselte schwarzes Haar auf Odos Füße. Seit er vor fast einem Jahr das Kloster Saint Geneviève verlassen hatte, hatte er sich den Bart wachsen lassen. Nach der Rasur ließ er Notkars Messer in die Tasche gleiten und betastete Kinn und Wangen. Unter seinen Fingern spürte er an einigen Stellen noch spitze Stoppeln.
Die Sonne war bereits untergegangen, und die Mönche sangen im Kloster die Komplet. Die Pilger schliefen längst. Sie hatten am Tage die Reliquien des heiligen Gallus angebetet und würden morgen früh weiterpilgern.
Doch Odo wusste, dass er keine Ruhe finden würde. Er
musste
einen Blick auf die Bücher werfen, da er befürchtete, die Legaten könnten nach ihrem Aufenthalt in Sankt Gallen mit den Schriften nach Rom weiterziehen. Auch wenn ihm bei dieser Sache nicht wohl war. Es warunrecht, ohne Erlaubnis in die Bibliothek einzudringen. Aber er hatte keine andere Wahl. Was wäre, wenn sich das Buch, das er suchte, ausgerechnet in der Kiste befand? Notkar hatte ihm erzählt, dass die Legaten sie in die Bibliothek gebracht hatten. Er durfte diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen!
Odo seufzte. Er war überzeugt, dass Gott ihm sein Eindringen verzeihen würde. Der Herrgott selbst war es doch gewesen, der seinem Knecht den Weg nach Sankt Gallen gewiesen hatte.
Das Schnarchen des Pförtners drang durch die geschlossene Tür. Odo öffnete sie vorsichtig und tastete nach dem Schlüssel neben der Tür.
Der Nachtwind strich sanft über sein Gesicht, während er an der Schule
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