Das Buch der Sünden
Mund.
Sie wendet das Gesicht ab und schaut zu ihrem Sohn. Mutter! Mutter! Ich kann dir nicht helfen. Ich bin so schwach.
So klein.
Odo öffnete die Augen. Er nahm das Messer aus der kleinen Holzkiste und hielt es vor die Kerze. Es waren noch Geris getrocknete Blutflecken darauf. Odo wischte mit einem Tuch darüber, bis die Klinge wieder glänzte, die ihm der stammelnde Mönch Notkar in Sankt Gallen geliehen hatte. Dann riss Odo sich ein Haar aus und prüfte damit die Schneide. Sie war noch immer sehr scharf.
Drei Sünden hatte Odo inzwischen gerichtet und drei der sieben Dämonen vernichtet. Nachdem er der Habsucht das Herz herausgeschnitten hatte, hatte er die Dämonen der Trägheit und der Völlerei besiegt. Jedes Mal war es ihm leichter gefallen, die von den Todsünden Besessenen zu opfern. Merkwürdigerweise hatte es nach der Panik über die erste Leiche, die er in die Esche gehängt hatte, keine weitere Aufregung gegeben. Odo hatteden Verdacht, dass man die Opfer still und heimlich entsorgt hatte, da der verrückte Jarl Hovi jedes Aufsehen vermeiden wollte.
Odo legte das Messer zurück zu den anderen Geräten, klappte die Kiste zu und schob sie zur Seite. Dann widmete er sich wieder dem Buch.
Das Buch!
Es verkündete die Wahrheit, die einzige wahrhaftige Wahrheit. Es war die Schrift des rechten Weges. Seines Weges – der hinführte zum Paradies auf Erden.
Nun – mit dieser Schrift in der Hand – war Odo nicht mehr schwach. Er war nicht mehr zu klein, um seiner Mutter beistehen zu können. Um seinen Vater zu rächen, und Allisa, das geschändete Mädchen. Zahn um Zahn. Blut für Blut.
Denn so stand es in der Offenbarung geschrieben:
Du bist würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du bist geschlachtet worden und hast uns für Gott erkauft mit deinem Blut aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen. Und du hast uns zu Königen und Priestern gemacht für unseren Gott. Und wir werden herrschen auf Erden!
Es klopfte zaghaft an der Tür.
Odo öffnete die Kiste, legte das Buch hinein, nahm das Messer und den Schlafschwamm heraus und verbarg beides unter seiner Kutte. Dann ließ er Folke eintreten.
Der Junge schlich gesenkten Hauptes an ihm vorbei und blieb unschlüssig stehen. Odo betrachtete ihn eingehend. Würde der Knabe es fertigbringen, ihn, seinen Priester, anzulügen? Folke wurde immer nervöser, trat von einem Fuß auf den anderen. Odo ließ ihn zappeln. Erst als Folkescheu den Kopf hob, fragte Odo: «Wie ist es dir gelungen, in meine Kammer einzudringen?»
«Ich … ich bin nicht …»
«Lüg nicht! Du bist hier drin gewesen! Wie hast du die Tür geöffnet?»
Odo tastete nach dem Messer. Wenn er den Knaben töten musste, würde er es hier an Ort und Stelle tun und ihn zu späterer Stunde, wenn alle anderen Brüder schliefen, in die Stadt bringen, damit der Mordverdacht auf die Heiden fiel.
Folkes Augen füllten sich mit Tränen. Er nestelte an seiner Tunika und zog schließlich einen gebogenen Draht aus seiner Tasche.
«Hiermit», flüsterte er. «Aber Ihr dürft mich nicht verraten, Vater!»
«Was ist das?»
«Damit kann man Schlösser öffnen.»
«Mit einem Stück Eisen?»
Folke nickte, ging zur Tür und stocherte mit dem Draht so lange im Schloss herum, bis es aufschnappte.
Odo war beeindruckt. Er nahm Folke das Eisen aus der Hand und verschloss die Tür wieder mit seinem Schlüssel.
«Woher hast du dieses Ding?», fragte er streng.
«Ich habe es Ulf gestohlen.»
«Ulf, dem Vorarbeiter?»
Folke nickte betrübt. «Ich habe gehört, dass Ulf damit früher in die Häuser eingebrochen ist, die er selbst gebaut hat.»
Ulf – ein Dieb? Odo war entsetzt. Er hatte einem Dieb die Verantwortung auf der Baustelle gegeben.
Diese Heiden! Diese verfluchten Heiden!
Odo schaute dem Jungen fest in die Augen. «Wo hast du das Messer her?»
«Aus dieser Kiste da», antwortete Folke und zeigte zum Tisch. «Sie lag in einem Erdloch unter Eurem Lager.»
Der Junge hatte sich offensichtlich entschieden, die Wahrheit zu sagen. Aber die Frage, von deren Antwort Leben oder Tod des Knaben abhing, hatte Odo noch nicht gestellt. Das tat er nun.
«Was befindet sich außer diesem Messer in der Kiste?»
Folke schaute ihn ängstlich an. Eine Träne kullerte über seine Wange.
Dann brach es aus ihm heraus: «Aber … aber ich wollte mir das Messer doch nur ausborgen. Die anderen ärgern mich immer. Ich wollte ihnen Angst machen. Ich hatte gedacht, dass
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