Das Buch der Sünden
fuhr sich durch das lange, weiße Haar, das sie tagsüber mit einer Spange zusammenhielt. Nun trug sie es offen, da sie auf dem Weg ins Bett gewesen war. «Mein Kamm hat schon die Hälfte seiner Zinken verloren. Aber ein neuer kostet Geld …»
«Ich werde ihn fragen, ob er dir einen Kamm macht», sagte Helgi. «Wenn wir den Vorschuss bekommen, kann ich Ingvar bezahlen.»
Gullweig nickte. Sie schob die Figuren zu immer neuen Anordnungen zusammen. Aber keine schien ihr zuzusagen.
«Schläft Einar?», fragte Helgi.
«Hm. Das Bibergeil hat ihm gutgetan. Ich soll dir sagen, dass er morgen weitermachen will. Gleich nach Sonnenaufgang. Geh also nicht zu spät ins Bett heute Abend.»
Dann endlich hatte sie die Lösung gefunden. Sie erklärte: «Wenn du der Angreifer bist, dann darfst du nicht gleich auf den König losstürmen. Du musst dich gedulden und so schnell wie möglich alle vier Ecken versperren.»
Vor jedem der vier Eckfelder, die der König erreichen musste, um das Spiel zu gewinnen, stellte Gullweig eine diagonale Dreierkette auf. «Und erst jetzt, wenn du alle Ecken abgesichert hast, machst du dich daran, die Verteidiger zu schlagen.»
Mit geschickten Zügen nahm sie einen Verteidiger nach dem anderen gefangen, indem sie ihn entweder in einer horizontalen oder vertikalen Linie in die Mitte nahm. Dann kreiste sie schließlich den König ein, sodass er keine Bewegungsfreiheit mehr hatte.
Freyja war gefangen.
«Siehst du», sagte sie mit verschwörerischer Miene. «Bevor du dich nicht nach allen Seiten hin abgesichert hast, darfst du dein Netz nicht auswerfen – sonst verlierst du alles.»
Sie gab Helgi die kleine Holzfigur zurück, strich ihm über den Kopf und ging schlafen.
Die Doppeldeutigkeit ihrer Bemerkung war Helgi nicht entgangen. Er nahm ihren Gedanken auf und ersetzte die Spielfeldecken durch die Hindernisse, die er überwinden musste: Gizur besaß das Mädchen, und das Gesetz kettete es an ihn. Er hatte es für so viel Geld gekauft, wie Helgi es in den nächsten Wochen und Monaten niemals würde verdienen können. Es sei denn, Einar würde seinem Sohn einen großen Teil des Vorschusses abgeben, womit nicht zu rechnen war.
Und dann war natürlich die Sklavin selbst ein Hindernis,wenn nicht sogar das größte. Denn woher sollte Helgi wissen, ob sie seine Gefühle überhaupt erwiderte? Sie hatte schließlich sein Geschenk zurückgewiesen und ihn dafür mit einem bitterbösen Blick gestraft.
Helgi grübelte. Vielleicht gefielen ihr seine schwarzen Haare nicht. Vielleicht fand sie ihn sogar abstoßend. War seine Nase zu groß? Oder sein Kinn zu kantig? Seine Arme zu kräftig?
Plötzlich vernahm er ein Geräusch. Jemand hatte die Tür des Nachbarhauses zugeschlagen.
Helgi sprang zum Fenster. Die Sklavin! Mit gesenktem Blick ging das Mädchen schnell an Helgis Haus vorbei.
Die Gassen waren menschenleer. Aus Gizurs Haus war kein Laut zu hören. Über dem Noor breitete sich die Dunkelheit aus.
Einen günstigeren Zeitpunkt gab es nicht.
17.
Nachdem Helgi die Brücke überquert und die Stadt hinter sich gelassen hatte, schlug er sich in Sichtweite des Sklavenviertels in ein Gebüsch. Von dort aus beobachtete er im Licht der untergehenden Sonne die eingezäunten Gebäude. Das Tor stand offen.
Die Sklaven, die in zerschlissene, graubraune Lumpen gehüllt waren, versammelten sich auf dem Hof. Rúna kam als Letzte hinzu.
Ein bartloser Krieger trat vor die Sklaven. Mit seinem aufgedunsenen Gesicht sah er aus wie eine Erdkröte. Er begann, die geschorenen Häupter durchzuzählen. Helgi vermutete, dass es sich bei dem Mann um Feng handelte,den Sohn des getöteten Sklavenhändlers Hrodmar. Als der schwammige Kerl die Anzahl der Sklaven überprüft hatte, nickte er einem der Wächter zu. Es war derjenige, den Helgi und Ingvar neulich beobachtet hatten. Der Mann trieb die Sklaven mit einem Knüppel zu einem der Langhäuser. Als sie darin verschwunden waren, legte er von außen den Riegel vor.
Nun kehrte Ruhe ein. Die Wächter und ihr Anführer verschwanden im Gebäude gleich neben dem Eingangstor.
Helgi wartete noch eine Weile, dann verließ er sein Versteck.
Vom Noor waberte der Geruch des morastigen Wassers herüber. Der Gestank wurde immer intensiver, je näher Helgi dem unmittelbar am Ufer gelegenen Viertel kam.
Vor dem noch immer geöffneten Tor hielt er inne.
Jetzt hörte er Gelächter aus dem Haus der Wächter. Fenster und Türen waren geschlossen. Das Haus war ordentlich mit Lehm
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