Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
Vom Netzwerk:
großen See, an dem ihre Siedlung lag. Da war ihr Vater, er lebte noch, und er küsste sie und ihre Schwester. Ihr Vater roch immer gut, nach Erde und Wald   …
    Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter.
    Rúna wirbelte herum und schlug panisch zu.
     
    Helgi war ihr bis zur Brücke gefolgt.
    Doch dann verließ ihn der Mut. Er ging ein viel zu hohes Risiko ein. Zwar würde es bald dunkel werden, und um diese Zeit war kaum noch jemand in den Gassen unterwegs. Aber jederzeit konnte jemand aus dem Haus treten.Viele Leute pinkelten in ihre Vorhöfe, oder sie leerten dort ihren Nachttopf aus.
    Er versteckte sich hinter einem Bohnenstrauch in einem der Vorgärten. In dem Moment drehte die Sklavin sich um. Wäre er jetzt noch auf der Straße gewesen, hätte sie ihn entdeckt.
    Als sie die Brücke erreichte, schaute sie in den Bach hinunter. Aber was tat sie da? Sie begann, hin und her zu schwanken wie ein Halm im Wind.
    Sie fällt ins Wasser, dachte Helgi und rannte los.
    Nach wenigen Sprüngen war er bei ihr, riss sie zurück und spürte sogleich einen kräftigen Schlag, der sein linkes Auge traf. Benommen taumelte er rückwärts, verlor den Halt, trat ins Leere und stürzte in den schlammigen Bach.
     
    Helgi lag rücklings im dreckigen, stinkenden Wasser.
    Viele Bewohner entsorgten hier ihren Unrat. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet, und der Bach, der im Frühjahr geräuschvoll dahinplätscherte, war zu einer Kloake verkommen.
    Unschlüssig darüber, was sie nun tun sollte, beobachtete Rúna, wie Helgi versuchte, sich aus dem Schlamm zu befreien.
    Sie schaute sich um. Noch immer war niemand zu sehen. Rasch trat sie an die flache Böschung und reichte ihm die Hand.
    Helgi warf ihr einen unsicheren Blick zu. Schließlich gelang es ihm, sich aufzurichten. Er kletterte, ohne nach ihrer Hand zu greifen, die Böschung hinauf. Oben angelangt, schüttelte er sich und wischte sich den Schlick aus dem Gesicht.
    Rúna betrachtete ihn ausdruckslos. Er war mindestens zwei Köpfe größer als sie und schien sehr stark zu sein. Er hatte kantige Gesichtszüge, die ihm etwas Herrschaftliches verliehen. Seine Haut war dunkler als die der meisten Menschen, die hier lebten.
    «Ich bin zu schwer für dich», erklärte er schließlich. «Ich hätte dich mit reingezogen.»
    Wie alt er wohl sein mochte?, dachte die Sklavin. Sie selbst war neunzehn. Er schien etwas jünger zu sein.
    «Die Figur», sagte er, «ich habe sie für dich geschnitzt.»
    Sie nickte.
    «Es ist das Abbild unserer Göttin Freyja», fuhr er fort. «Sie lebt im Himmel, ganz weit da oben, an einem Ort, der Folkwang heißt. Ich würde dir gern von ihr erzählen.»
    Die Sklavin konnte seine Unsicherheit spüren. Er stammelte und stotterte, als stünde er zum ersten Mal einer Frau gegenüber.
    Dann sagte er: «Wir sollten hier nicht stehen bleiben. Es könnte uns jemand sehen.»
    Er deutete auf eine Ansammlung von Gebäuden, etwa fünfzig Schritt bachaufwärts. «Wir könnten dort hingehen. Diese Häuser sind noch unbewohnt. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich möchte nur mit dir reden. Dir von Freyja erzählen   …»
    Die Sklavin war hin und her gerissen. In wenigen Augenblicken würden die Wächter vor die Sklaven treten und nachzählen, ob alle rechtzeitig zurück waren. Wer zu spät kam, dem drohten Stockhiebe.
    «Ich weiß, dass du in das Viertel musst. Ich habe euch gestern beobachtet. Die Wächter erscheinen aber erst nachEinbruch der Dunkelheit. Wir hätten also noch ein bisschen Zeit.»
    Sie überlegte kurz. Sie würde ihr Leben aufs Spiel setzen – aber was war ihr Leben schließlich noch wert?
    Sie nickte.
     
    Sie kam mit!
    Sie kam wirklich mit! Helgi konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte schon befürchtet, alles verdorben zu haben.
    Während sie zu den Häusern schlichen, betastete er sein Auge. Die Sklavin hatte einen festen Schlag.
    Sie kamen auf einen Hinterhof, auf dem man damit begonnen hatte, einen Brunnen anzulegen. Man hatte eine etwa fünf Fuß tiefe Grube ausgehoben, daneben lag ein Tannenholzfass, wie es in Haithabu häufig als Verschalung für Brunnen genutzt wurde.
    Sie ließen sich an der frisch mit Lehm verputzten Flechtwerkwand nieder. Zwischen ihnen blieb ein gebührender Abstand.
    Die Farbe des Himmels wechselte allmählich von dunkelblau zu schwarz. Hier und da leuchteten die ersten Sterne auf. Die Zeit wurde knapp.
    Helgi sagte mit Blick auf den Nachthimmel: «Dort oben lebt sie, in einer Wohnung, die Folkwang

Weitere Kostenlose Bücher