Das Buch der Sünden
heißt und in der es einen großen und schönen Saal gibt, den Sessrumnir. Freyja ist die Tochter des Gottes Niörd, dem Beherrscher des Windes, des Meeres und des Feuers. Wenn sie auszieht zum Kampf, dann reitet sie in einem von zwei Katzen gezogenen Wagen auf das Schlachtfeld. Nach dem Kampf muss sie Allvater Odin die Hälfte der Toten abgeben, denn Odin ist der mächtigste aller Götter. Aber Freyja ist die Schönste und die Herrlichste.»
Helgi wandte der Sklavin sein Gesicht zu. Sie schien ihm aufmerksam zuzuhören.
Er erzählte weiter: «Vom Namen Freyja rührt es her, dass man einige Weiber auch Frauen nennt, das sind die schönen, die … «
Helgi verstummte.
Das sind die schönen, die man liebt,
hatte er sagen wollen, doch er brachte es nicht über die Lippen.
Stattdessen erzählte er lieber die Geschichte, in der der Thursenfürst Thrym einst die Göttin Freyja zum Weibe hatte nehmen wollen, wobei er jedoch eine Abfuhr erhielt, was der gehörnte Thrym mit folgenden Worten kommentierte: «Wie furchtbar flammen der Freyja die Augen, mich dünkt, es brenne ihr Blick wie Glut.»
Als die Geschichte zu Ende war, wandte sich die Sklavin ihm zu und schaute ihm in die Augen.
Ihr Blick bohrte sich in Helgis Innerstes. Er hatte das Gefühl, dass sie alles sehen konnte, was in ihm vorging. All seine Gedanken, seine Geheimnisse. Niemals zuvor hatte er ein so intensives Gefühl verspürt. Es raubte ihm den Atem. Die Zeit schien stehenzubleiben.
Ein Schwarm Möwen zog keifend über die Stadt hinweg. Und irgendwo, ganz weit entfernt, heulte ein Wolf.
Dann, nach einer halben Ewigkeit, erhob sich die Sklavin, strich ihre Tunika glatt, klopfte den Staub ab und wandte sich zum Gehen. An der Hausecke drehte sie sich noch einmal zu ihm um und kam zurück. Sie zog etwas aus ihrer Tunika und reichte es ihm.
Es war seine Figur, die aus Eibenholz geschnitzte Freyja.
Als Helgi wieder aufschaute, war das Mädchen verschwunden.
22.
Das Buch lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Die Kerze war längst niedergebrannt. Aber nun sickerte das erste Tageslicht durch die Ritzen der undichten Wände. Odo rieb sich die Augen. Er hatte eine weitere schlaflose Nacht hinter sich.
Der Abschnitt in dem Buch, den er nun, wie die anderen drei zuvor, ein für alle Mal würde schließen können, war mit einem wundervollen Bild illustriert.
Darauf waren hohläugige Weiber zu sehen, deren Brüste herabhingen. Es waren liederliche Gestalten, die sich spitzköpfigen, gehörnten Drachenwesen hingaben. Die lasterhaften Weiber spreizten ihre Beine und kopulierten mit den Dämonen, diesen Ausgeburten der Hölle. Am Rande dieser Illustration befand sich – kaum erkennbar – eine Kirche. Es war ein aus Stein errichtetes Gotteshaus, mit einem Brunnen davor und einem Baum, an den man eines der Weiber, eine der Huren, gefesselt hatte.
Odo beugte sich über dieses Detail, studierte die Zeichnung und lächelte zufrieden. Er hatte alles richtig gemacht.
Zwei blutige Löcher klafften im Oberkörper der Hure. Man hatte ihre Brüste abgeschnitten und sie ihr zu Füßen gelegt. In ihrem Geschlecht steckte eine Lanze; aus ihrem Mund ragte der Schwanz eines Aals. Der Fisch hatte sich in ihrem Hals festgebissen und war ebenso wie die Hure erstickt.
Über der entstellten Leiche schwebte ein Buchstabe in den Himmel. Es war das «L» – und es bedeutete Luxuria, die Wollust. Es war das Zeichen des Dämons, der diesesWeib beherrscht hatte, dessen Sünde gesühnt und der nun vernichtet worden war.
Odo atmete tief ein. Während er ganz langsam wieder ausatmete, blätterte er die Seite um. Der nächste Abschnitt über die fünfte der sieben Sünden war überschrieben mit dem Buchstaben «I» – dem Zeichen für Ira, den Zorn.
Odo markierte die Seite mit einem Lesezeichen, wickelte das kostbare Buch in ein Tuch und verstaute es mit der Kiste in dem Erdloch unter seinem Bett.
23.
Der Tag brach an.
Nach den Laudes, dem Morgenlob, bei dem die Brüder die von der Regel des heiligen Benedikt vorgegebenen Psalmen gebetet hatten, begab sich Odo auf die Baustelle. Die ersten Arbeiter waren gerade gekommen. Werkzeuge wurden verteilt und Arbeiten zugewiesen. Bald darauf waren die Schläge der Hämmer und Äxte zu vernehmen. Die Geräusche klangen wie Musik in Odos Ohren.
Die Mauern der Steinkirche wuchsen rasch in die Höhe. Es ging schneller, als er zu hoffen gewagt hatte. Die Umrisse des Gotteshauses waren bereits auszumachen. Damit das Baumaterial nicht ausging,
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