Das Buch der Sünden
uns zusammenfällt.»
Odo schaute in die Runde. Die Männer sahen verunsichert aus. Sie hatten ihre Arbeitsplätze verlassen und bildeten einen Kreis um den Priester und den Vorarbeiter Ulf, der mit hängenden Schultern dastand und mit den Tränen kämpfte.
«Du da!» Odo winkte einen breitschultrigen Dänen namens Ospak herbei, einen versierten Balkenspalter und Steineklopfer.
Er hatte Ospak erst vor wenigen Tagen von der Baustelle des Walls abgeworben, der südlich von Haithabu dieGrenze zum fränkischen Reich verstärken sollte. Hovi ließ diesen Wall im Auftrag des Königs errichten, um damit die bestehende Grenzanlage entlang der Wegverbindung zwischen Haithabu und Hygelac zu ergänzen. Dieser zweite Dänenwall sollte sich eines Tages vom Fjord im Osten bis zu den Niederungen der Rheider-Au im Westen hinziehen. Er sollte ein unüberwindbares Bollwerk gegen die vom ostfränkischen König Ludwig regierten Sachsen im Süden darstellen.
«Welche Aufgaben hattest du bei der Befestigung der Grenze?», fragte Odo den etwa dreißig Jahre alten Mann.
«Ich habe eine der Kolonnen beaufsichtigt, die den Wall mit Holzpalisaden verkleiden.»
«Du hast die Arbeiter also angeleitet?», bohrte Odo nach.
Ospak nickte vage.
«Gut», sagte Odo. «Ich werde dich in die Baupläne der Kirche einweihen. Ab sofort bist du der neue Vorarbeiter.»
Dann wandte er sich wieder an Ulf. «Pack deine Sachen zusammen! Noch vor Mittag bist du verschwunden.»
Der stämmige Ulf sackte in sich zusammen wie ein Unschuldiger, über den man soeben das Todesurteil verhängt hatte.
«Aber ich habe noch niemals ein Steinhaus …», warf Ospak ein.
Odo lächelte milde. «Du wirst es schaffen. Ich werde dir jede Unterstützung geben, die du brauchst.»
Natürlich war Odo bewusst, dass Ulfs Rauswurf einen Rückschlag für den Fortgang der Bauarbeiten bedeutete. Er war bei den Männern beliebt, konnte sie zu harter Arbeit antreiben. Außerdem war er der beste Bauleiter, denOdo hatte finden können. Ohne ihn würden sie mit der Fertigstellung der Kirche um Tage, wenn nicht um Wochen, zurückgeworfen.
Aber Ulf war ein Dieb – und Diebstahl war eine schwere Sünde. Wer anderen Menschen etwas wegnahm, machte sich der Habsucht schuldig, so wie der Dieb Grein es getan hatte.
Denn so hatte Moses es einst den Menschen verkündet: Du sollst nicht stehlen!
Ulf sank schluchzend vor Odo auf die Knie. «Wenn Ihr mir diese Arbeit nehmt, nehmt Ihr mir mein Leben», flehte er. «In der Stadt werde ich keine andere Arbeit finden, weil ich mich Euch angeschlossen habe. Hovi droht jedem mit harter Strafe, der einen Mann beschäftigt, der zuvor von den Christen abgeworben wurde. Wenn ich keine Anstellung finde, wird meine Familie verhungern. Meine Frau hat uns gerade ein Mädchen geboren, unser fünftes Kind.»
«Das hättest du dir früher überlegen müssen», erwiderte Odo schulterzuckend.
Er wollte sich gerade zurückziehen, weil ihm das kindische Gejammer auf die Nerven ging, als einige Arbeiter aufgeregt auf den Weg deuteten, der nach Haithabu führte.
Eine Gruppe Reiter näherte sich der Baustelle. Es waren die Krieger des Jarls, in vollem Galopp und schwer bewaffnet.
Zuvorderst ritt der narbengesichtige Krieger, Egil Blóðsimlir, flankiert von zwei glatzköpfigen Hünen, den Berserkern. Ihnen folgte ein gutes Dutzend Krieger mit gezückten Waffen.
Die Arbeiter steckten aufgeregt die Köpfe zusammen. Angst machte sich breit.
Hauptmann Egil ließ seine Männer etwa dreißig Schritt vor der Baustelle halten. Sofort verzogen sich die Arbeiter und Christen hinter die Steinhaufen und Bretterstapel, wo sie sich in Sicherheit wähnten.
Odo wich als Einziger nicht von der Stelle. Er breitete seine Arme aus und rief den Kriegern entgegen: «Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der ist und der war und der kommt!»
Egil verzog sein Gesicht und spuckte auf den Boden. «Halt dein Maul, Kuttenträger!», schnauzte er, die Hand am Schwertknauf. «Bist du der Führer dieser feigen Kerle, die sich vor uns verkriechen wie die Ratten?»
Odo nickte. Auch er verspürte Unbehagen beim Anblick der wilden Männer, deren Waffen im Sonnenlicht glänzten. Doch er durfte seine Unruhe nicht zeigen. Er musste den Arbeitern und den Brüdern ein Vorbild an Standhaftigkeit sein.
Lächelnd trat er daher den Kriegern entgegen.
Egil hob überrascht die Braue über dem unvernarbten Auge. Dadurch wurde sein entstelltes Gesicht auf unheimliche Weise verzerrt.
Die
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