Das Buch der Sünden
hatte. Und nicht, nachdem man sie wie ein Stück Vieh auf einem Marktplatz verkauft hatte.
Damals hatte sie sich geschworen, dass niemals wieder ein Wort über ihre Lippen kommen würde, solange sie in Sklaverei leben musste.
Man hatte sie Rúna genannt, weil sie niemandem ihren wirklichen Namen verraten wollte. Rúna, das bedeutet Geheimnis, hatte man ihr erzählt. Geheimnis? Lächerlich! Das einzige Geheimnis, das es für sie gab, war die Frage, warum sie noch lebte.
Sie sah keine Zukunft, und die Erinnerung an ihre Vergangenheit verschwamm von Tag zu Tag mehr. Die Gegenwart, in der sie zu leben gezwungen war, bestand aus Arbeit und den Misshandlungen ihres Herrn. Es war das Schrecklichste, was sie jemals hatte erleben müssen.
Ihr Herr hieß Gizur. Sein Körper war untersetzt, sein Rücken durch einen hässlichen Buckel verunstaltet.
Der Schmied war ein lebendig gewordener Albtraum. Er ließ seine Frau dahinsiechen und zwang sie, dabei zuzuschauen, wie er sich an seiner Sklavin verging. Um für die Außenwelt den Schein seiner Ehe zu wahren, musste Rúna ihre Nächte im Viertel außerhalb der Stadt verbringen.
Hier war es eng und stickig. Es stank fürchterlich, und sie war der Willkür der Wächter ausgesetzt. Dennoch war es nichts im Vergleich zu ihrem Herrn.
Gizur empfand pure Lust, wenn er seine Sklavin schlug, wahrscheinlich noch mehr, als wenn er es mit ihr trieb. Meist verwendete er für seine Züchtigungen eine Lederpeitsche, manchmal auch eine Haselnussgerte. Anlässe dafür, sie zu schlagen, fand er genug. Es genügte ein wenig verschüttetes Mehl oder ein zu langer Blick auf die Ehefrau, um nach der Peitsche zu greifen.
In den Monaten ihrer Gefangenschaft hatte das Mädchen gelernt, was es hieß, jemanden abgrundtief zu hassen. Zunächst hasste Rúna nur die Männer, die ihr Heimatdorf überfallen hatten. Sie hasste den Verräter, der ihr Volk hintergangen und ihren Vater getötet hatte. Sie hasste die Sklavenhändler, die sie mit dreckigen Fingern begrapschten. Diese Männer fassten unter die Röcke der Sklavinnen und untersuchten anschließend ihre Zähne. Rúna hatte diese Männer so sehr gehasst, dass sie glaubte,niemals noch mehr Abneigung gegen irgendwelche Menschen empfinden zu können.
Doch dann wurde sie an den Schmied verkauft, und sie begriff, dass Schmerz und Hass ins Unendliche steigerbar waren.
Aber der Hass schien auch sein Gutes zu haben. Er hatte sie bislang überleben lassen. Hass war ein starkes Gefühl, stärker als Liebe, und solange Rúna fühlte, lebte sie.
Wahrscheinlich war dies die Antwort auf die Frage, warum sie noch lebte.
Im Schutz der Dunkelheit öffnete sie abermals ihre Hand.
Die Figur. Sie war ein Geschenk. Der Junge hatte sie nicht zufällig in das Fenster gestellt. Nein, er hatte die Holzpuppe für sie gemacht. Für sie! Für eine Sklavin, die seinem Nachbarn gehörte. Das war gefährlich, sogar lebensgefährlich. Sowohl die Sklavin als auch er konnten dafür schwer bestraft werden, womöglich mit dem Tode.
Warum hatte er das getan? Es gab viele junge Mädchen in Haithabu. Sie waren viel schöner als eine Sklavin mit rasiertem Schädel, dreckiger Haut und Narben von Peitschenhieben. Warum ausgerechnet sie?
Sie war wütend gewesen, als er gestern versucht hatte, ihr diese Puppe zu schenken. Wie konnte er nur so dumm sein? Ihr Herr beobachtete sie oft, wenn sie das Haus verließ. Ein einziger Blick hätte gereicht …
Am Abend war ihre Wut verflogen. Sie spürte, wie sich ganz allmählich in ihren Gedanken, den von Hass verseuchten Gedanken, ein anderes, längst vergessenes Gefühl einnistete. Es war aufgetaucht wie die kleinen Wellen, die sich nach einem Steinwurf auf der Wasseroberfläche ausbreiten.
War es Wärme? Oder Zutrauen? So wie eine Kerzenflamme, die das Dunkel ein ganz klein wenig erhellt und erträglicher macht?
Irgendwo in der Baracke schniefte jemand. Eine Frau stöhnte. Ein Mann sagte, dass der Körper des verstorbenen Mädchens kalt sei.
Die Sklavin Rúna streichelte das Geschenk. Durch ihre Körperwärme war das Holz warm geworden. Die glatte Oberfläche schmeichelte ihren Fingern. Ein Kribbeln durchfuhr ihren Körper, von der Kopfhaut bis hinunter in die Zehen.
Da wusste sie es: Das Gefühl, das sich in ihre Gedanken geschlichen hatte, hieß Hoffnung.
20.
«Steh endlich auf!»
Widerwillig öffnete Helgi seine Augen. Einar stand breitbeinig vor dem Bett. Er hatte sich bereits die Lederschürze umgebunden und hielt den
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