Das Buch der Sünden
Klage war über ihre Lippen gekommen. Dennoch hatte der Tod ihres Mannes ihr Wesen grundlegend verändert. Wortkarg war sie geworden, abwesend und unfähig, den Haushalt in gewohnter Weise weiterzuführen. Rúnas Erscheinen hattesie gleichgültig hingenommen und noch kein einziges Wort an sie gerichtet.
Helgi plagten heftige Schuldgefühle, weil er seinen Vater allein nach Sliesthorp hatte gehen lassen. Wäre er dabei gewesen, hätte Gizur sie niemals angegriffen.
Er befürchtete insgeheim, dass Gullweig Rúna für Einars Tod mitverantwortlich machte. Schließlich war sie der Grund dafür gewesen, dass er seinen Vater in jener Nacht nicht begleitet hatte.
Als die letzte Strophe verklungen war, kniete Gullweig zu Einars Füßen nieder und legte einen mit Bernsteinen, Glasperlen und einer Silbermünze gefüllten Lederbeutel zu den Werkzeugen. Es waren ihre letzten Wertgegenstände. Gullweig hatte auf dieser Grabbeigabe bestanden, obwohl sie dafür noch zwei oder drei Säcke Getreide und einige Fische hätten kaufen können. Aber Helgi hatte nicht den Mut aufgebracht, ihr zu widersprechen. Nun würden harte Zeiten anbrechen, zumal mit Rúna ein weiterer Magen gefüllt werden musste.
Gullweig küsste ihren Mann auf die Stirn, dann trat sie wieder hinter den kleinen Graben. Helgi schaufelte mit dem Spaten so lange Erde auf, bis Einar von einem Erdhügel bedeckt wurde. Helgi klopfte die Erde fest und beschwerte sie mit Steinen. Das Kopfende des Grabs markierte Gullweig mit einem Pfosten, in den sie einige Runen geschnitzt hatte. Als sie damit fertig war, las sie die Inschrift vor:
«Besitz stirbt, Verwandte sterben, und irgendwann stirbst du selbst wie sie. Aber eines weiß ich, das ewig lebt: des Toten Tatenruhm.»
Helgi traten Tränen in die Augen. Doch er schämte sich für seine Gefühle, ein Mann weinte nicht. Er wischte die Tränen mit dem Handrücken weg.
«Einar war der Beste», brachte er gepresst hervor. «Das werden wir niemals vergessen.»
Gullweig wandte sich seufzend ab und ging davon. Doch sie kam nicht weit.
Hovis Waffenmeister, der die Beerdigung beobachtet hatte, versperrte ihr den Weg.
«Ich muss mit deinem Sohn reden, Weib», sagte Olaf Skoðgætir.
Helgi stellte sich sofort schützend vor Rúna. Er befürchtete, Olaf wolle sie zu Gizur bringen. Drei Tage waren seit dem Feuer vergangen. Genug Zeit also für den Kryppa, sich von seiner Niederlage zu erholen und bei Hovi um Unterstützung zu betteln.
«Was willst du?», rief Helgi. Er hielt den Spaten wie eine Waffe.
Olaf trieb Gullweig mit seinem fetten Bauch vor sich her in Helgis Richtung. Er wankte leicht. In der Rechten hatte er einen Trinkschlauch mit Wein. Als er auf zehn Schritt herangekommen war, nahm er einen Schluck und sagte: «Was für ein kahlgeschorenes Luder versteckst du da vor mir, Junge?»
Helgi hob den Spaten. In Olafs Gürtel steckten ein Sax und eine Axt.
Der Waffenmeister verzog das Gesicht. «Das Weib kenn ich doch. Das ist die vom andern Schmied, die Stumme. Beackerst du jetzt diese Furche?» Er lachte dröhnend.
«Das geht dich einen Dreck an», erwiderte Helgi.
Olaf rümpfte die Nase. «Pass auf, wie du mit mir redest.» Er saugte erneut am Trinkschlauch. Dann sagte er: «Ich bin hier, um dir mitzuteilen, dass Hovi seine Waffen haben will.»
«Welche Waffen?», erwiderte Helgi.
«Stell dich nicht dümmer, als du bist, Einars Sohn! Der Jarl hat vom Tod des Schmieds erfahren. Und jetzt will er die Schwerter, Äxte und Messer haben, die der Alte bereits fertiggestellt hat.»
«Der Auftrag ist noch nicht erfüllt», entgegnete Helgi trotzig. «Ich bitte dich um einen weiteren Vorschuss, Olaf. Mein Vater hat mich das Schmieden gelehrt. Ich werde den Auftrag zu Ende führen.»
Olafs Nasenflügel weiteten sich. Er pumpte Luft. «Ich bin nicht hier, um mit dir zu feilschen, Junge. Hovi hat seine Güte bereits erwiesen, indem er gewartet hat, bis ihr den Alten unter die Erde gebracht habt. Jetzt will er seine Waffen.»
Er setzte den Trinkschlauch an. Wein tropfte in seinen Zopfbart. «Morgen», knurrte er. «Halt die Sachen bereit.»
Breitbeinig stapfte er über den Friedhof davon.
34.
Verdeckt vom Blaubeergestrüpp, beobachtete Odo den Dämon Ira.
Draupnir, der zornige Berserker, führte bei der Kampfübung auf der Hochburg eine Kriegergruppe an, sein Bruder Hrungnir eine andere. Jede dieser Gruppen war etwa fünfzig Mann stark. Zwischen ihnen war eine Entfernung von etwa sechzig Schritt. Sie waren mit
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