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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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soll; und er hat sie durch seinen Engel gesandt und gedeutet seinem Knecht   …»
    Atemlose Stille. Alle Blicke waren auf Odo gerichtet, der all die Wahrheiten verkündete, die die Brüder hören sollten. Die Brüder, seine Schafe, seine Herde. Er hatte sie längst dort, wo er sie haben wollte: in bedingungsloser Gefolgschaft. Sie würden ihm, Odo von Lutetia, dem Auserwählten, folgen bis zum Ende dieser Welt.
    Und der Untergang war nicht mehr weit.
    Odo fuhr fort: «…   der kundgetan hat das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi, alles, was er gesehen hat. Selig ist, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und behalten, was darin geschrieben ist – denn die Zeit ist nahe.»
    Die Zeit war nahe.
    Bald würde die Steinkirche, das neue Haus Gottes, errichtet sein. Bald würden die letzten drei Dämonen vernichtet sein: Ira, der Zorn, Invidia, der Neid – und die größte aller Sünden, Superbia, der Stolz, die Erhabenheit über Gott.
    Dann würde es sich einstellen, das Himmelreich auf Erden, das Neue Jerusalem. Es würde herabschweben auf die Erde. Eine Stadt mit einer großen und hohen Mauer und zwölf Toren; eine Stadt, die so herrlich war wie eine geschmückte Braut.
    Das alles verkündete Odo seinen Brüdern, die alles um sich herum vergessen hatten und die an seinen Lippen hingen wie Bienen an Blüten, von denen süßer Nektar tropft.
    Befriedigt stellte Odo fest, dass einer von der Predigt besonders fasziniert war. Der Knabe Folke saugte seine Worte in sich auf, wie er selbst es einst beim Priester Jakob getan hatte in Saint Etienne, der prächtigen Kathedrale von Paris. Seine Heimatstadt war ihm in seinerKindheit vorgekommen wie das heilige Jerusalem. Bis der Verderber diesen Traum zerstört hatte.
    Der Trübsinn, dem Folke bisweilen anheimfiel, schwand mit jedem Wort, das Odo predigte. Als der Priester schließlich zum Ende kam, schien es ihm, als leuchte ein heller Schein über dem Knaben.
    Odo sagte: «Ich sah die Toten vor dem Thron stehen, vom Kleinsten bis zum Größten, und Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was geschrieben steht in den Büchern, nach ihren Werken.»
    Der Priester faltete die Hände zum Gebet, und als die Brüder es ihm gleichgetan hatten, sagte er: «Es spricht, der solches bezeugt: Ja, ich komme bald. Amen, ja komm, Herr Jesus! Amen!»
    «Amen!», wiederholte Folke lauter als alle anderen.
     
    Er entdeckte den Knaben im Schuppen, der unweit der Baustelle in einem Birkenwäldchen stand. Die Hütte wurde als Lager für Baumaterialien und Werkzeuge genutzt.
    Folke kauerte zwischen Brettern, Eisenbarren und mit Hanffasern gefüllten Säcken. Das Leuchten war wieder von ihm gewichen. Er weinte still.
    Überrascht schaute er auf, als Odo eintrat.
    «Gottes Wohnung ist bald bei den Menschen», sagte Odo zu ihm. «Ja, Gott wird in unserer Mitte wohnen. Er wird unsere Tränen abwischen.»
    Folke schniefte. «Wann kommt er denn endlich?»
    «Bald, Folke, sehr bald.»
    «Er soll die anderen bestrafen. Sagt Ihr ihm das, bitte?»
    Odo runzelte die Stirn. «Von wem sprichst du?»
    «Von Geri und den anderen Jungen.»
    Odo kniete neben Folke nieder und strich ihm eine blonde Strähne aus dem Gesicht. «Haben sie dich wieder geärgert?»
    Folke nickte finster. «Sie haben Pech in meine Hose getan. Es ist alles verklebt.»
    «Was hast du dagegen getan?»
    «Ich habe versucht, mich zu waschen. Aber es geht nicht ab.»
    «Ich meinte, was hast du mit Geri getan?»
    Folke hob abwehrend die Hände. «Ich habe mich nicht gerächt, Vater. Ich bin ihm aus dem Weg gegangen, so wie Ihr gesagt habt.»
    «Gut, mein Sohn. Du lernst schnell. Du bist anders als die anderen Jungen. Überlasse es dem Allmächtigen, die Sünder zu bestrafen.»
    Folke verzog das Gesicht. «Aber am liebsten würde ich   …»
    «Ich weiß, ich weiß. Doch wenn Gott erst in unserer Mitte wohnt, wird es kein Leid mehr geben und keine Schmerzen. Denn was früher war, ist dann vergangen.»
    Der Priester erhob sich, strich seine Kutte glatt und fragte Folke, ob er ihn in die Stadt begleiten wolle. Er habe auf dem Markt einige Besorgungen zu erledigen.
    Folkes Miene hellte sich auf. «Ja, gern!», rief er und hüpfte aus dem Schuppen.
    Kinder, dachte Odo, sie wechseln ihre Stimmung wie die Fliegen ihre Flugrichtung. Sie vergessen schnell, aber verzeihen, nein, verzeihen werden sie nie!
     
    Als die Sonne ihren

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