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Das Buch der Toten

Das Buch der Toten

Titel: Das Buch der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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begreifen, zu analysieren, dem Entsetzen einen Sinn abzugewinnen.
    Er roch die Fäulnis des Mädchenkörpers. Und hatte plötzlich den Wunsch, in ihre Hölle hinabzutauchen.
    Als er und Schwinn endlich wieder in ihrem Wagen saßen, war es fast elf. »Du kannst wieder fahren«, sagte Schwinn. Keine Spur von Feindseligkeit, keine zweideutigen Anspielungen - und Milo dachte allmählich, dass seine Reaktion auf Schwinns Bemerkung über Normalität Ausdruck seines eigenen Verfolgungswahns gewesen war. Sein Partner hatte einfach nur so dahergeredet, das war eben seine Art. Er ließ den Motor an. »Wohin?«
    »Egal. Ach, weißt du was, fahr doch auf den Freeway rauf und an der zweiten Ausfahrt wieder raus in Richtung Downtown. Ich muss nachdenken.«
    Milo gehorchte und fuhr die Auffahrt entlang, so wie der Mörder es getan hatte. Schwinn reckte sich und gähnte, dann schniefte er, zog die Flasche mit seinem Hustensaft aus der Tasche und trank einen großen Schluck von dem roten Zeug. Dann griff er nach dem Knopf des Funkgeräts und schaltete es aus, schloss die Augen und begann an seinen Mundwinkeln herumzuzupfen. Das würde wieder eine dieser schweigsamen Phasen werden.
    Sie dauerte an, bis Milo wieder die Straßen der Innenstadt erreicht hatte. Er fuhr die Temple Street entlang, vorbei am Music Center und an den unbebauten Grundstücken, die daran angrenzten. Jede Menge ungenutzter Platz, auf dem die Reichen neue Kulturtempel zu errichten gedachten. Redeten von Stadterneuerung als ob irgendjemand sich für diesen armseligen Abklatsch einer lebendigen Innenstadt interessieren würde, als sei das Ganze nicht bloß ein Gitter von Straßenfluchten zwischen Betonwürfeln, in denen Regierungsbürokraten ihre Tagschicht absaßen und es kaum erwarten konnten, sich aus dem Staub zu machen, wenn hier abends alles kalt und dunkel wurde.
    »Also, was machen wir jetzt?«, fragte Schwinn. »Mit dem Mädchen. Was meinst du?«
    »Herausfinden, wer sie war?«
    »Das dürfte nicht allzu schwierig sein, wenn man an diese gepflegten Fingernägel denkt und die hübschen geraden Zähne. Wenn sie eine Straßendirne war, dann liegt ihr Abstieg noch nicht lange zurück. Irgendjemand wird sie vermissen.«
    »Sollten wir mit einer Anfrage in der Vermisstenabteilung anfangen?«
    »Du wirst damit anfangen. Ruf morgen früh dort an. In der Vermisstenabteilung sind sie nachts ziemlich dünn besetzt; da kannst du von Glück reden, wenn du um diese Uhrzeit einen von den Burschen dazu bringen kannst, sich zu rühren.«
    »Aber wenn sie als vermisst gemeldet wurde, hätten wir einen Vorsprung, wenn wir die Information noch heute Abend kriegen«
    »Was für einen Vorsprung denn? Das hier ist doch kein Wettrennen, Junge. Wenn unser böser Bube die Stadt verlassen hat, dann ist er inzwische n sowieso über alle Berge. Wenn nicht, machen ein paar Stunden mehr oder weniger den Kohl auch nicht fett.«
    »Trotzdem, ihre Eltern machen sich doch gewiss Sorgen«
    »Na schön, Amigo«, sagte Schwinn. »Betätige dich als Sozialarbeiter. Ich fahre nach Hause.«
    Keine Verärgerung, nur diese herablassende Selbstzufriedenheit.
    »Soll ich zum Revier zurückfahren?«, fragte Milo.
    »Ja, ja. Nein, vergiss es. Fahr rechts ran, sofort , Junge. Da drüben, ja ja ja, bleib an dieser Bushaltestelle stehen.«
    Die Haltestelle war nur ein paar Meter weiter, auf der Nordseite der Temple Street. Milo fuhr auf der linken Spur und musste das Lenkrad scharf einschlagen, um sie nicht zu verpassen. Langsam ließ er den Wagen an den Bordstein heranrollen und versuchte zu erkennen, was der Grund für Schwinns plötzliche Sinnesänderung war.
    Ein dunkler, menschenleerer Block, niemand in der Nähe, doch, da war jemand. Eine Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf. Sie ging mit schnellen Schritten in westlicher Richtung.
    »Eine Informantin?«, fragte Milo, als die Gestalt allmählich deutlicher zu erkennen war, es war eine Frau.
    Schwinn zog seine Krawatte stramm. »Bleib hier stehen und lass den Motor laufen.« Er stieg rasch aus und erreichte den Gehsteig gerade rechtzeitig, um die Frau abfangen zu können. Auf dem Pflaster war das Klicken von Pfennigabsätzen zu hören, als sie näher kam.
    Eine große Frau, schwarz, wie Milo erkannte, als sie in das Licht der Straßenlaterne trat. Groß und vollbusig. Vielleicht um die vierzig. Sie trug einen Minirock aus blauem Leder und ein babyblaues rückenfreies Oberteil. Auf ihrem Kopf türmten sich Massen von hennagefarbtem Haar,

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