Das Buch der Toten
wahrhaben, ich weiß es nicht«, sagte Hansen. »Luke war kein brutaler Typ, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass er sich hat mitreißen lassen. Aber ohne die anderen hätte er so etwas niemals getan. Er sagte mir, er sei wie… gelähmt gewesen, als ob er mit den Füßen im Sand feststeckte. So hat er es formuliert, ›Ich konnte die Füße nicht bewegen, Nick. Als ob ich im Treibsand stecken geblieben wäre.‹«
»Können Sie sich vorstellen, dass einer der anderen so etwas von sich aus getan hätte?«
»Ich weiß nicht… in meinen Augen waren sie eher Witzfiguren… ja, vielleicht. Ich will nur sagen, dass Luke eigentlich ein Softie war. Ein richtiges Riesenbaby.«
»Und die anderen?«
»Die anderen waren keine Softies.«
»Also«, sagte Milo, »der Mord begann als Versuch, das Mädchen zum Schweigen zu bringen.«
Hansen nickte.
»Aber daraus hat sich etwas ganz anderes entwickelt, Nicholas. Wenn Sie die Leiche gesehen hätten, wüssten Sie, was ich meine. Das ist etwas, was Sie bestimmt nicht gerne malen würden.«
»O Gott«, sagte Hansen.
»Hat Luke Chapman irgendwie angedeutet, wer den Anstoß zu dem Mord gegeben hatte?«
Hansen schüttelte den Kopf.
»Wie war's mit einem Tipp?«, meinte Milo. »Wenn Sie mal überlegen, wie Sie die Kingers so in Erinnerung haben.«
»Vance«, antwortete Hansen wie aus der Pistole geschossen.
»Er war der Anführer. Vance ist derjenige gewesen, der sie abgeschleppt hat. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass Vance als Erster auf sie eingestochen hat.«
Milo klappte seinen Notizblock zu. Sein Kopf ruckte vor.
»Wer hat denn etwas von Stechen gesagt, Nicholas?«
Hansen wurde bleich. »Sie sagten doch, Sie sagten, es sei so grässlich gewesen.«
»Chapman hat ihnen erzählt, dass sie mit dem Messer auf sie eingestochen haben, nicht wahr?«
»Vielleicht, kann sein.«
Milo stand auf, stapfte ganz langsam über die hallenden Fliesen auf Hansen zu und hielt wenige Zentimeter vor dem Gesicht des Malers inne. Hansen starrte ihn entsetzt an und hob schützend die Hände.
»Was verschweigen Sie uns sonst noch alles, Nicholas?«
»Nichts! Ich gebe mir alle Mühe«
»Geben Sie sich noch mehr Mühe«, sagte Milo.
»Ich versuch's ja.« Hansens Stimme nahm einen weinerlichen Ton an. »Es ist zwanzig Jahre her. Sie bringen mich dazu, mich an Dinge zu erinnern, die ich verdrängt hatte, weil ich sie so widerlich fand. Ich wollte damals keine Einzelheiten hören, und ich will sie auch jetzt nicht hören.«
»Weil sie schöne Dinge lieben«, sagte Milo. »Die wunderbare Welt der Kunst.«
Hansen presste sich die Hände gegen die Schläfen und mied Milos Blick. Milo ging in die Knie und sprach in Hansens rechtes Ohr.
»Erzählen Sie mir von der Messerattacke.«
»Das ist alles. Er sagte nur, sie hätten plötzlich angefangen, auf sie einzustechen.« Hansens Schultern hoben und senkten sich, und er begann zu weinen.
Milo gönnte ihm eine kurze Verschnaufpause. Dann sagte er:
»Und nachdem sie auf sie eingestochen hatten?«
»Haben sie ihr die Haut mit glühenden Zigaretten verbrannt. Luke sagte, er habe es richtig zischen gehört… o Gott, ich habe wirklich geglaubt, er hätte sich das alles…«
»Nur ausgedacht.«
Hansen schniefte, wischte sich mit dem Ärmel die Nase und ließ den Kopf sinken. Sein Nacken war faltig und glänzend wie Talg.
Milo sagte: »Sie haben ihr Brandwunden zugefügt, und dann?«
»Das ist alles. Das ist wirklich alles. Luke sagte, es sei irgendwann wie ein Spiel gewesen, er musste sich einreden, dass es nur ein Spiel sei, um nicht vollkommen durchzudrehen. Er sagte, er habe hingeschaut und sich vorzustellen versucht, sie sei nur eine von diesen aufblasbaren Puppen, und dass sie nur mit ihr spielten. Es schien gar kein Ende nehmen zu wollen, sagte er, bis dann irgendjemand, ich glaube, es war Vance, aber ich kann es nicht beschwören, wahrscheinlich war er es, bis Vance schließlich sagte, sie sei tot und sie müssten sie von dort wegschaffen. Sie haben sie dann in irgendwas eingewickelt, in den Kofferraum von Vance' Jaguar gesteckt und irgendwo am Stadtrand abgeladen.«
»Ziemlich viele Details für eine bloße Halluzination«, meinte Milo.
Hansen gab keine Antwort.
»Besonders für einen beschränkten Jungen wie Chapman. Hatte er sonst auch so eine blühende Fantasie?«
Hansen blieb stumm.
»Wohin haben sie die Leiche gebracht, Nicholas?«
»Ich weißes nicht, aber warum stand denn nichts darüber in der Zeitung?«
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