Das Buch der Toten
sagte Milo.
»Ich versuche nur, die Geschichte korrekt wiederzugeben. Das waren Lukes Worte.«
»Hat Chapman sich an der Vergewaltigung beteiligt?« Hansen murmelte vor sich hin.
»Wie bitte?«, fragte Milo.
»Er war sich nicht sicher, aber er nahm an, dass er mitgemacht hatte. Er war auch dicht gewesen. Alle waren sie dicht. Er konnte sich nicht mehr erinnern, er sagte nur immer wieder, das Ganze sei wie ein Albtraum gewesen.«
»Besonders für das Mädchen«, bemerkte Milo.
»Ich wollte es ihm nicht glauben«, sagte Hansen. »Ich war für zehn Tage von Yale nach Hause gekommen. Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war, mit so etwas konfrontiert zu werden. Ich dachte mir, dass es wohl wirklich ein Traum gewesen war, irgendeine Art von Drogenfantasie. In der Zeit, als ich Luke gekannt hatte, war er ständig auf irgendeinem Trip gewesen.«
»Sie sagten, er habe Sie um Hilfe gebeten. In welcher Form?«
»Er wollte wissen, was er tun sollte. Ich war zweiundzwanzig, verdammt noch mal, wer war ich denn, dass ich ihm Ratschläge erteilen konnte?« Hansens Finger umkrampften das Whiskeyglas. »Er hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können, um bei mir aufzukreuzen. Ich hatte schon von verschiedener Seite zu hören bekommen, ich sei talentiert, und ich war endlich so weit, dass ich Vater die Stirn bieten konnte. Da hätte es mir gerade noch gefehlt, in so eine… Horrorgeschichte hineingezogen zu werden. Ich hatte das Recht, mich da nicht hineinziehen zu lassen. Und ich weiß nicht, wieso Sie glauben, Sie hätten das Recht«
»Also haben Sie beschlossen, es einfach zu ignorieren«, stellte Milo fest. »Was haben Sie Chapman erzählt?«
»Nein«, erwiderte Hansen. »Das stimmt nicht. Ich habe es nicht ignoriert. Nicht ganz. Ich sagte Luke, er solle heimgehen und keinem Menschen etwas davon erzählen, und wenn ich darüber nachgedacht hätte, würde ich mich wieder bei ihm melden.«
»Und er hat auf Sie gehört?«
Hansen nickte. »Das war genau das, was er… hören wollte. Er dankte mir. Nachdem er gegangen war, sagte ich mir, dass es wohl nur die Drogen waren, die aus ihm gesprochen hatten. Aber in diesem Jahr hatte ich ein Erlebnis, in einem Malkurs, an dem ich teilnahm. Der Lehrer war ein Einwanderer aus Österreich, ein Überlebender des Holocaust. Er erzählte mir Horrorgeschichten über all die braven Bürger, die behauptet hatten, von nichts gewusst zu haben. Wie schamlos sie logen. Wie ganz Wien Hitler zugejubelt hatte, als er an die Macht kam, und wie alle vor den Gräueltaten der Nazis die Augen verschlossen hatten. Ich erinnere mich noch an einen Satz von ihm: ›Die Österreicher haben sich erfolgreich eingeredet, dass Hitler Deutscher und Beethoven Österreicher war.‹ Das ist bei mir hängen geblieben. So wollte ich nie sein. Also bin ich in die Bibliothek gegangen und habe mir sämtliche Zeitungen für den Zeitraum, in dem nach Lukes Angaben der Mord stattgefunden hatte, vorgenommen. Aber da war nichts. Nicht ein einziger Artikel, nicht ein Wort über irgendein Mädchen, das in Bel Air ermordet worden war. Und so gelangte ich zu der Überzeugung, dass Luke tatsächlich gesponnen hatte.«
Hansen ließ die Schultern sinken. Er gestattete sich ein mattes Lächeln. Versuchte, sich zu entspannen. Milo konterte mit Schweigen, und Hansens Muskeln strafften sich wieder. »Sie wollen also im Grunde sagen…?«
»Haben Sie sich je bei Chapman gemeldet? Wie Sie es ihm versprochen hatten?«
»Ich hatte ihm nichts zu sagen.«
»Und was haben Sie dann getan?«
»Ich bin wieder nach Yale zurückgegangen.«
»Hat Chapman Sie dort zu erreichen versucht?«
»Nein.«
»Wann waren Sie das nächste Mal in L. A.?«
»Erst Jahre später. Den nä chsten Sommer habe ich in Frankreich verbracht.«
»Sie haben L. A. gemieden?«
»Nein«, erwiderte Hansen. »Ich hatte anderes im Sinn.«
»Zum Beispiel?«
»Ich wollte malen.«
»Wann sind Sie wieder nach L. A. gezogen?«
»Vor drei Jahren, als Mutter krank wurde.«
»Wo haben Sie davor gelebt?«
»In New York, in Connecticut, in Europa. Ich versuche, so viel Zeit wie möglich in Europa zu verbringen. Umbrien, das Licht«
»Wie sieht es mit Österreich aus?«, fragte Milo. Die Farbe wich aus Hansens Gesicht.
»Sie sind also hier, um Ihre Mutter zu pflegen?«
»Das ist der einzige Grund. Wenn sie einmal nicht mehr ist, werde ich das Haus verkaufen und mich an einem ruhigen Ort niederlassen.«
»Und einstweilen«, sagte Milo, »sind Sie und
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