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Das Buch der Toten

Das Buch der Toten

Titel: Das Buch der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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fantastisch. Wie ist noch mal der französische Ausdruck für Stillleben - nature morte? Tote Natur?«
    »Sie versuchen doch nur, mich klein zu kriegen.«
    Milo griff nach dem Türknauf. Hansen sagte: »Na schön, sehen Sie es sich an. Aber ich habe momentan nur ein Bild in Arbeit, und da gibt es noch viel dran zu tun.«
    Wir folgten ihm nach oben, die Treppe mit dem Messinggeländer hinauf zu einem langen, mit einem verblichenen grünen Veloursteppich ausgelegten Flur. Drei Schlafzimmer an einem Ende, eine einzelne, geschlossene Tür auf der Nordseite. Davor stand ein Frühstückstablett auf dem Boden, mit einer Teekanne und drei Plastikschüsseln: blutrote Götterspeise, weich gekochte Eier, deren Dotter sich bereits dunkel verfärbt hatten, und eine bräunliche, körnige, verkrustete Substanz.
    »Warten Sie hier«, sagte Hansen. »Ich muss nach ihr sehen.« Er schlich auf Zehenspitzen zur Tür, öffnete sie einen Spalt breit, warf einen Blick ins Zimmer und kam wieder zurück. »Sie schläft noch. Okay, kommen Sie mit.«
    Sein Atelier war im südlichsten der drei Schlafzimmer, einem kleinen Raum, der sich aber nach oben bis zu den Dachsparren ausdehnte, mit einem Oberlicht, das die Mittagssonne hereinließ. Die Holzdielen waren weiß gestriche n, ebenso wie seine Staffelei. Eine Feile mit weiß lackiertem Griff, ein weißer Malkasten, weiße Pinselhalter, Gläser mit Terpentin und Verdünner. Die Farbtupfer auf der Palette aus weißem Porzellan tanzten in der milchigen Atmosphäre wie exotische Schmetterlinge.
    Auf der Staffelei stand eine elf mal vierzehn Zoll große Holztafel. Hansen hatte gesagt, an seinem aktuellen Bild gebe es noch viel zu tun, aber für mich sah es fertig aus. In der Mitte des Bildes war eine wunderschön geformte, blauweiße Ming-Vase zu sehen, so detailgetreu wiedergegeben, dass ich das Bedürfnis verspürte, die glänzende Oberfläche zu berühren. Ein gezackter Sprung zog sich von oben nach unten über den Bauch der Vase, und über ihren Rand wucherte eine dichte Masse von Blüten und Ranken, deren leuchtende Farben durch das gebrannte Umbra des Hintergrunds betont und belebt wurden, ein Braun, das zum Rand hin in tiefstes Schwarz überging.
    Orchideen, Pfingstrosen, Tulpen, Schwertlilien und noch andere Blüten, die ich nicht identifizieren konnte. Grelle Farben, schillernde Streifenmuster, üppige Blüten, scheidenförmige Blätter, schlängelnde Ranken, alles durchsetzt mit bedrohlich düsteren Klumpen von Torfmoos. Der Riss schien das unmittelbar bevorstehende Zerbersten anzudeuten. Blumen, konnte man sich ein bezaubernderes Motiv vorstellen? Aber Hansens Blüten, so prächtig und üppig und feuriglebhaft sie auch sein mochten, sprachen eine andere Sprache.
    Verblassender Glanz, verwelkende Ränder, und aus dem Dunkel heraus das unerbittliche Vorrücken der schwärzlichen Fäulnis.
    Durch eine Lüftungsklappe in der Decke strömte gekühlte Luft herein - neutral, künstlich, sauber gefiltert, doch ein merkwürdiger, feuchter Modergeruch stieg mir in die Nase, der von dem Bild auszugehen schien.
    Milo wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Sie benutzen kein Modell.«
    Hansen erwiderte: »Es ist alles in meinem Kopf.«
    Milo trat an die Staffelei heran. »Sie arbeiten mit abwechselnden Schichten von Ölfarbe und Lasur?«
    Hansen starrte ihn an: »Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie malen?«
    »Ich kann noch nicht mal einen geraden Strich zeichnen.« Milo ging noch näher an die Tafel heran und kniff die Augen zusammen. »Hat ein bisschen was von den Flamen, würde ich sagen oder von jemandem, der die flämische Schule zu schätzen weiß, wie Severin Roesen, zum Beispiel. Aber Sie sind besser als Roesen.«
    »Wohl kaum«, erwiderte Hansen, den das Kompliment nicht zu beeindrucken schien. »Ich bin bei weitem nicht mehr das, was ich war, bevor Sie in mein Leben geplatzt sind. Sie haben mich tatsächlich kleingekriegt. Ich habe mich selbst klein gemacht. Werden Sie mich wirklich schützen?«
    »Ich werde mein Bestes tun, wenn Sie mitarbeiten.« Milo richtete sich zu voller Größe auf. »Hat Luke Chapman davon gesprochen, dass sonst noch jemand bei dem Mord zugegen war? Irgendwelche anderen Partygäste?«
    Hansens fleischiges Gesicht erzitterte. »Nicht hier. Bitte.«
    »Das ist meine letzte Frage.«
    »Nein. Er hat niemand sonst erwähnt.« Hansen setzte sich an die Staffelei und krempelte die Ärmel hoch. »Sie werden mich schützen«, sagte er mit tonloser

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