Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Gemütsbewegungen und Gedanken oder vielmehr ein Frühlingsbeginn, der, auch ohne fallende Blätter, in Luft und Himmel herbstlich ist.
Die Mattigkeit schmeckt gut, und was gut schmeckt, schmerzt immer ein wenig. Obgleich mitten im Leben, fühlen wir uns ein wenig außerhalb, wie auf dem Balkon des Hauses, in dem es sich abspielt. Wir sind nachdenklich, ohne zu denken, wir fühlen, ohne bestimmbare Gefühle. Der Wille ruht, denn er wird nicht gebraucht.
Dann aber kommen bestimmte Erinnerungen, bestimmte Hoffnungen, bestimmte unbestimmte Wünsche langsam den Hang unseres Bewußtseins hoch, undeutlich wie Wanderer, vom Gipfel eines Berges aus gesehen. Erinnerungen an belanglose Dinge, nicht erfüllte Hoffnungen, um die es nicht schade war, Wünsche, weder heftig von Natur aus noch in ihrer Äußerung, unfähig, auch nur existieren zu wollen.
Wenn der Tag sich einstellt auf diese Empfindungen, wie der Tag heute, der trotz Sommer halb bewölkt ist, halb blau, und ein schwacher Wind weht, der, weil nicht warm, fast kalt ist, ja, dann verstärkt sich jener Seelenzustand, in dem wir diese Eindrücke denken, fühlen und erleben. Nicht daß unsere Erinnerungen, Hoffnungen, Wünsche deutlicher wären. Aber wir verspüren sie stärker, und ihre unbestimmte Summe lastet absurderweise ein wenig auf unserem Herzen.
Etwas in mir ist fern in diesem Augenblick. Ich stehe tatsächlich auf dem Balkon des Lebens, aber nicht wirklich dieses Lebens. Ich stehe über ihm und sehe es, von wo ich sehe. Es liegt vor mir, mit Abhängen und Terrassen, wie eine vielgestaltige Landschaft bis hin zum Rauch über den weißen Häusern der Dörfer im Tal. Auch wenn ich die Augen schließe, sehe ich, denn ich sehe nicht. Wenn ich sie öffne, sehe ich nichts mehr, denn ich habe nicht gesehen. Ich bin eine unbestimmte Sehnsucht, nicht nach der Vergangenheit, nicht nach der Zukunft: Ich bin eine Sehnsucht nach der Gegenwart, namenlos, unaufhörlich, unverstanden.
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25 . 7 . 1932
Die Klassifikatoren von Dingen, also jene Wissenschaftler, deren Wissenschaft nur im Klassifizieren besteht, wissen im allgemeinen nicht, daß das Klassifizierbare unendlich ist und also nicht klassifiziert werden kann. Was mich dabei aber in Erstaunen versetzt, ist, daß sie die Existenz von klassifizierbaren Unbekannten außer acht lassen, Vorgänge der Seele und des Bewußtseins, die in den Zwischenräumen der Erkenntnis geschehen.
Weil ich vielleicht zuviel denke oder träume, mache ich keinen Unterschied zwischen der Realität, die existiert, und dem Traum, der Realität, die nicht existiert. Und so schiebe ich in meine Betrachtungen über Himmel und Erde Dinge ein, die nicht in der Sonne glitzern oder mit Händen zu greifen sind – schwer faßbare Wunder der Einbildungskraft.
Ich vergolde mich mit vorgestellten Sonnenuntergängen, aber auch das Vorgestellte ist in der Vorstellung lebendig. Ich freue mich über imaginäre Brisen, das Imaginäre aber lebt, wenn man es sich vorstellt. Verschiedenen Hypothesen zufolge habe ich eine Seele, aber diese Hypothesen haben ihre eigene Seele, und die schenken sie mir.
Das einzige Problem ist das Realitätsproblem, es ist so unlösbar wie lebendig. Was weiß ich vom Unterschied zwischen einem Baum und einem Traum? Ich kann den Baum berühren: Ich weiß, ich träume den Traum. Was bedeutet diese Wahrheit?
Was bedeutet dies? Ich kann allein in dem menschenleeren Büro in meiner Phantasie leben, ohne daß mein Verstand Schaden nimmt. Meine Gedanken werden weder von den verlassenen Schreibpulten noch von den Warenpacken mit dem zugehörigen Papier und den Bindfadenknäueln unterbrochen. Ich sitze nicht auf meiner hohen Bank, sondern lehne mich auf dem runden Armstuhl Herrn Moreiras zurück, als ob ich meine Beförderung vorwegnähme. Vielleicht ist es der Einfluß des Ortes, der mich mit Geistesabwesenheit salbt. Hitzetage machen schläfrig; ich schlafe, ohne zu schlafen, aus Mangel an Energie. Daher diese Gedanken.
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Schmerzhaftes Intervall
Die Straße ermüdet mich allmählich, aber nein, sie ermüdet mich nicht – alles im Leben ist Straße. Eine Taverne ist gegenüber, ich sehe sie, wenn ich über die rechte Schulter schaue; und auch ein Stapel Kisten, ich sehe ihn, wenn ich über die linke Schulter schaue; und in der Mitte, was ich nicht sehe, wenn ich mich nicht ganz umdrehe, beschallt der Schuhmacher den Eingang zu den Büros der Companhia Africana mit gleichmäßigem Hämmern. Die anderen Stockwerke sind
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