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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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wie entgegengesetzten, aus deren Bankrott das Zeitalter erwuchs, das sie selbst zu Fall brachte.

    Wir erleben einen Zwischenakt mit Orchestermusik.

    Doch was habe ich in meinem vierten Stock mit all diesen Zivilisationen zu schaffen? All dies ist für mich ein Traum wie die Prinzessinnen von Babylon, und unsere Beschäftigung mit der Menschheit ist nichtig und abermals nichtig – eine Archäologie der Gegenwart. Ich werde im Nebel verschwinden wie ein allem Fremder, ein menschliches Eiland, losgelöst vom Traum des Meeres, ein Schiff mit einem Übermaß an Sein, an der Oberfläche von allem.

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    6 .  5 .  1930
    Für mich ist Metaphysik seit jeher eine Form latenten Wahnsinns. Kennten wir die Wahrheit, sähen wir sie; alles übrige ist System und Drumherum. Wir müssen uns mit der Unverständlichkeit des Universums begnügen; es verstehen wollen heißt weniger als Mensch sein, denn Mensch sein heißt wissen, daß man es nicht verstehen kann.
    Man bringt mir den Glauben wie ein verschnürtes Paket auf einem befremdlichen Tablett. Ich soll es annehmen, aber nicht öffnen. Man bringt mir die Wissenschaft wie ein Messer auf einem Teller, um die Blätter eines Buches aufzuschneiden, dessen Seiten unbeschrieben sind. Man bringt mir den Zweifel wie Staub in einer Schachtel; doch wozu, wenn die Schachtel nur Staub enthält?
    Ich schreibe, weil es mir an Wissen fehlt, und benutze die hehren, abstrakten Begriffe für Wahrheit, wie mein Gefühl es verlangt. Ist dieses Gefühl klar und bestimmend, spreche ich ganz selbstverständlich von den Göttern und bringe somit mein Gefühl ein in das Bewußtsein von einer vielfältigen Welt. Ist dieses Gefühl tief, spreche ich ganz selbstverständlich von Gott und fasse es somit in ein einziges Bewußtsein. Ist dieses Gefühl ein Gedanke, spreche ich ganz selbstverständlich vom Schicksal und treibe es somit in die Enge.
    Bisweilen wird der Satzrhythmus nach Gott und nicht nach den Göttern verlangen; dann wieder werden sich die beiden Silben von »Götter« aufdrängen, und ich werde mit Worten das Weltall wechseln; ein andermal hingegen wird sich ein innerer Reim aufdrängen, eine Verlagerung des Rhythmus, ein Erschrecken des Gefühls, und je nachdem werden Polytheismus oder Monotheismus das Sagen haben. Die Götter sind eine Funktion des Stils.

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    Wo ist Gott, auch wenn er nicht existiert? Beten will ich und weinen, Verbrechen bereuen, die ich nicht begangen habe, Vergebung genießen wie eine nicht wirklich mütterliche Liebkosung.
    Einen Schoß zum Weinen, groß, übergroß, gestaltlos, weit wie eine Sommernacht und dennoch nah, warm, weiblich, neben einem Herdfeuer … Dort über Unvorstellbares weinen können, über unerklärliche Niederlagen, über inexistente Lieben und ein großes, angstvolles Erschaudern vor ich weiß nicht welcher Zukunft …
    Noch einmal Kind sein, noch einmal eine alte Amme haben und ein Bettchen, in dem ich mich in den Schlaf wiegen lasse von Geschichten, denen meine immer lauere Aufmerksamkeit kaum mehr folgen kann, Geschichten von großen Gefahren, die vordringen zu einem Kinderhaarschopf, blond wie Weizen … Und all dies riesig, ewig, endgültig für immer und in Gottes erhabener Gestalt, dort in der traurigen, schläfrigen Tiefe der letzten Wirklichkeit der Dinge …
    Einen Schoß oder eine Wiege oder einen warmen Arm um meinen Hals … Eine Stimme, die leise singt, als wolle sie mich zum Weinen bringen … Das Knistern des Herdfeuers … Wärme im Winter … Ein laues Abschweifen meines Bewußtseins … Dann, lautlos, ein stiller Traum in unermeßlicher Weite, wie ein Mond zwischen den Sternen kreisend …

    Wenn ich meine Kunstgriffe beiseite lasse und mein Spielzeug – Wörter, Bilder, Sätze – mit Sorgfalt, Zärtlichkeit und dem Wunsch, sie zu küssen, in einer Ecke verstaue, fühle ich mich so klein, so wehrlos, so allein in diesem großen Zimmer, so traurig, so abgrundtief traurig! …
    Wer eigentlich bin ich, wenn ich nicht spiele? Ein armes Waisenkind, ausgesetzt in den Straßen der Empfindung, fröstelnd an den Ecken der Wirklichkeit, gezwungen, auf den Stufen der Traurigkeit zu schlafen und sich vom Brot der Phantasie zu nähren. Von meinem Vater weiß ich den Namen: Ich hörte, er hieße Gott, doch der Name sagt mir nichts. Manchmal in der Nacht, wenn ich mich allein fühle, rufe ich nach ihm und weine und versuche, mir ein Bild von ihm zu machen, das ich lieben kann … Doch dann denke ich, daß ich ihn nicht kenne,

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