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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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Konkreten bedienen, und alles wird klar sein: Eine Spirale ist eine vertikal um ein Nichts gewundene Schlange, die keine Schlange ist. Alle Literatur ist ein Versuch, das Leben wirklich werden zu lassen. Wie wir alle wissen, auch wenn wir unwissentlich handeln, ist das Leben in seiner unmittelbaren Wirklichkeit absolut unwirklich; Felder, Städte, Ideen sind gänzlich künstliche Dinge, Ausgeburten der komplexen Wahrnehmung unserer selbst. Alle Eindrücke sind unvermittelbar, es sei denn, wir lassen sie Literatur werden. Kinder sind überaus literarische Wesen, denn sie sprechen, wie sie fühlen, und nicht wie fühlen muß, wer wie ein anderer fühlt. Ich hörte einmal ein Kind, das sagen wollte, es sei den Tränen nahe, nicht sagen: »Ich möchte am liebsten weinen«, wie ein Erwachsener, das heißt ein Dummkopf sagen würde, sondern: »Ich möchte am liebsten Tränen.« Und dieser Satz, so literarisch, daß er bei einem berühmten Dichter affektiert wirkte, sofern er zu ihm in der Lage wäre, bezieht sich unmittelbar auf die warme Gegenwart der Tränen, die bitter den Lidern entströmen. »Ich möchte am liebsten Tränen!« Jenes kleine Kind hat seine Spirale bestens definiert!
    Sagen! Sagen können! Durch die geschriebene Stimme und das geistige Bild existieren können! Das macht den Wert des Lebens aus; der Rest sind Männer und Frauen, vermeintliche Lieben und gekünstelte Eitelkeiten, Tücken der Verdauung und des Vergessens, Leute, die zappeln wie Geschmeiß – wenn man einen Stein aufhebt – unter dem großen abstrakten Fels des sinnlos blauen Himmels.

118
    Ob mich bekümmert, daß niemand liest, was ich schreibe? Ich schreibe, um mich vom Leben abzulenken, und ich veröffentliche, weil dies zur Spielregel gehört. Wenn morgen meine gesamten Aufzeichnungen verlorengingen, würde mich dies schmerzen, doch ich glaube, weniger heftig und wahnsinnig, als man vielleicht annimmt, da in alldem mein ganzes Leben liegt. Es ist nicht anders als mit einer Mutter, die ihr Kind verloren hat: Nach einigen Monaten ist sie wieder da [?] und dieselbe wie zuvor. Die große Erde, die alle Toten aufnimmt, nähme auch – weniger mütterlich – diese beschriebenen Blätter auf. Alles ist ohne Bedeutung, und ich bin sicher, daß so manche, wenn sie das Leben betrachteten, nicht viel Geduld aufbrachten für dieses noch immer wache Kind, sondern sich nach jener Ruhe sehnten, die sich einstellte, sobald das Kind im Bett war.

120
    Auf diese vage, fast unwägbare Schadenfreude, die jedes menschliche Herz angesichts fremden Schmerzes und fremder Bedrängnis ergreift, greife ich beim Ausloten meiner eigenen Schmerzen zurück und treibe sie so weit, daß ich sie, komme ich mir lächerlich oder schäbig vor, so genieße, als handle es sich nicht um mich, sondern um einen anderen. Durch eine merkwürdige, unglaubliche Umwandlung der Gefühle vermag ich diese boshafte, allzu menschliche Freude angesichts fremden Schmerzes und fremder Lächerlichkeit nicht zu empfinden. Angesichts der Erniedrigung anderer verspüre ich keinen Schmerz, sondern ein ästhetisches Unbehagen, eine versteckte Empörung. Und dies nicht, weil ich etwa mitfühlend wäre, sondern weil, wer sich lächerlich macht, sich nicht nur mir gegenüber lächerlich macht, sondern auch gegenüber anderen, und es ärgert mich, wenn jemand für andere lächerlich ist, es schmerzt mich, daß irgendein menschliches Wesen auf Kosten eines anderen lacht, hat es doch kein Recht dazu. Daß die anderen auf meine Kosten lachen, stört mich nicht, denn nach außen hin schützt mich ein nützlicher Panzer der Verachtung.
    Gewaltiger als jede Mauer sind die haushohen Gitter, mit denen ich den Garten meines Seins so umgeben habe, daß ich die anderen zwar bestens sehe, sie aber noch besser aussperre und sie für mich immer die anderen bleiben.
    Ich war in meinem Leben stets besonders darauf bedacht, jegliches Handeln zu umgehen.
    Ich unterwerfe mich weder dem Staat noch dem Menschen; ich leiste passiven Widerstand. Der Staat kann mich nur als Handelnden wollen. Und solange ich nicht handle, kann ich ihm nichts geben. Da man heute keine Todesstrafe mehr verhängt, kann er mir höchstens Unannehmlichkeiten bereiten; sollte dies geschehen, muß ich meinen Geist noch stärker panzern und noch mehr in meinen Träumen leben. Doch bisher ist nichts geschehen. Der Staat hat mich nie belästigt. Ich glaube, das Schicksal hat dafür Sorge tragen können.

121
    Wie jeder Mensch von großer

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