Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
welch wirre, babylonische Sprache müßte ich sprechen, wollte ich den Santa-Justa-Aufzug [22] in Lissabon, die Kathedrale von Reims, die Hosen der Zuaven oder die Art beschreiben, wie man Portugiesisch in der Provinz Trás-os-Montes spricht? Dies sind Unebenheiten an der Oberfläche, fühlbar mit unseren Füßen, nicht aber mit unserem Kopf. Das Allgemeine am Santa-Justa-Aufzug ist die Mechanik, die uns das Leben erleichtert. Das Wahre an der Kathedrale von Reims ist weder die Kathedrale noch Reims, sondern die religiöse Majestät von Bauwerken, die dem Erkennen der menschlichen Seelentiefe gewidmet sind. Ewig an den Hosen der Zuaven ist die mit ihnen verbundene farbige Vorstellung von Trachten, eine menschliche Sprache, deren gesellschaftliche Einfachheit in gewisser Weise eine neue Nacktheit ist. Das Allgemeine an unterschiedlichen Mundarten ist der heimische Stimmklang von spontan lebenden Leuten, die Verschiedenheit einander naher Menschen, das bunte Erbe der Lebensweisen, die Unterschiedlichkeit der Völker und die große Vielfalt der Nationen.
Ewige Reisende in uns selbst, sind unsere Landschaften, was wir sind. Wir besitzen nichts, weil wir nicht einmal uns besitzen. Wir haben nichts, weil wir nichts sind. Welche Hände sollte ich nach welchem Universum ausstrecken? Das Universum ist nicht mein: ich bin es.
124
(Chapter on Indifference or something like that)
Jede ihrer selbst würdige Seele möchte das Leben im Extrem leben. Sich bescheiden mit dem, was man erhält, ist Sklaven eigen. Mehr wollen ist Kindern eigen. Mehr erobern ist Narren eigen, denn alles Erobern ist […]
Das Leben im Extrem leben bedeutet, es bis zum Äußersten zu leben, und das kann man auf dreierlei Art, es ist an jeder höheren Seele, sich eine dieser Arten zu wählen. Das Leben läßt sich durch extreme Besitznahme extrem leben, mittels einer Odyssee durch alle lebbaren Empfindungen, durch alle Formen veräußerlichter Energie. Doch waren es zu allen Weltenzeiten nur wenige, die ihre Augen müde aller Müdigkeiten schließen konnten und alles auf alle Weise besaßen.
Nur wenige können das Leben veranlassen, sich ihnen mit Leib und Seele zu ergeben; sie kennen keine Eifersucht, da sie sich seiner Liebe ganz und gar sicher sind. Doch dies ist gewiß der Wunsch jeder höheren und starken Seele. Stellt diese Seele jedoch fest, daß sie ihren Wunsch nicht verwirklichen kann, daß es ihr an Kraft fehlt, alle Teile des Ganzen zu erobern, so bleiben ihr noch zweierlei Wege: zum einen der Weg des völligen Verzichts, der vollkommenen und strikten Enthaltung, wobei sie in die Sphäre des Empfindungsvermögens verlagert, was sie im Bereich der Aktivität und Energie unmöglich ganz besitzen kann. Lieber erhaben nicht handeln als unnütz, fragmentarisch und unzureichend handeln wie die unzählbar überflüssige, nichtige Mehrheit der Menschen; zum anderen der Weg des vollkommenen Gleichgewichts, die Suche nach der Grenze in absoluter Ausgewogenheit, wobei sich das Verlangen nach dem Extrem vom Willen und vom Gefühl auf die Verstandeskraft verlagert und der ganze Ehrgeiz nunmehr darauf gerichtet ist, nicht das ganze Leben zu leben, nicht das ganze Leben zu fühlen, sondern das ganze Leben zu ordnen, es in innerer und äußerer Übereinstimmung zu erfüllen.
Der Drang zu begreifen, der für so viele edle Seelen den Drang zur Tat ersetzt, gehört in die Sphäre des Empfindungsvermögens. Energie durch Verstandeskraft ersetzen, die Verbindung zwischen Wille und Gefühl unterbrechen, allen Gesten des materiellen Lebens das Interesse nehmen, dies ist, sofern man es vermag, mehr wert als das Leben, das so schwer ganz zu besitzen ist und so traurig, wenn wir es nur zum Teil besitzen.
Die Argonauten sagten, Seefahrt muß sein, nicht aber Leben. Wir, Argonauten eines krankhaften Empfindungsvermögens, sollten sagen, Empfinden muß sein, nicht aber Leben.
125
Eure Karavellen, Herr [23] , haben niemals eine Reise unternommen, die in ihrer Bedeutung dem Schiffbruch gleichkommt, den mein Denken mit diesem Buch erlitten hat. Sie umschifften kein Kap, sie sahen kein ferneres Gestade – weder die Kühnheit der Kühnen noch die Vorstellungskraft der Wagemutigen –, das vergleichbar wäre dem Kap, welches ich in meinem Sinnen umschifft, und dem Gestade, an welches ich […] mein Bemühen habe anlaufen lassen.
Kraft Eures Entschlusses, Herr, hat man die wirkliche Welt entdeckt; kraft meines Entschlusses wird man die geistige Welt
Weitere Kostenlose Bücher