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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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nicht einmal einem Affen, sondern einer Katze oder einem Hund. Keiner von uns, angefangen von der Katze bis hin zu mir, lebt tatsächlich das Leben, das ihm auferlegt, oder das Schicksal, das ihm bestimmt ist; wir alle stammen gleichermaßen von etwas anderem ab, sind schattenhafte Gesten eines anderen, verkörperte Wirkungen, fühlende Folgen. Doch zwischen mir und dem Bauern gibt es einen Qualitätsunterschied, zurückzuführen auf die Existenz abstrakten Denkens in mir und uneigennützige Gefühle; zwischen ihm und der Katze hingegen besteht in geistiger Hinsicht nur ein gradueller Unterschied.
    Der überlegene Mensch unterscheidet sich vom niederen Menschen und den ihm verschwisterten Tier schlicht durch das Merkmal der Ironie. Die Ironie ist das erste Anzeichen dafür, daß unser Bewußtsein bewußt geworden ist und zwei Stadien durchläuft: das durch Sokrates geprägte Stadium, als er sagte: »Ich weiß, daß ich nichts weiß«, und das durch Sanches [30]   geprägte Stadium, als er sagte: »Ich weiß nicht einmal, ob ich nichts weiß.« Während des ersten Stadiums zweifeln wir dogmatisch an uns selbst, und an diesen Punkt gelangt jeder überlegene Mensch. Während des zweiten Stadiums zweifeln wir nicht nur an uns selbst, sondern auch an unserem Zweifel, und an diesen Punkt sind nur wenige gelangt in dieser kurzen und schon so langen Zeitspanne, während der wir, die Menschheit, Sonne und Nacht an der vielfältigen Oberfläche der Erde gesehen haben.
    Sich kennen heißt sich irren, und das Orakel, das da sagte: »Erkenne dich selbst!«, hat dem Menschen eine schwierigere Aufgabe zugewiesen als die des Herkules und ein schwärzeres Rätsel aufgegeben als das der Sphinx. Sich bewußt nicht kennen – das ist der Weg! Und sich gewissenhaft nicht kennen ist praktische Ironie. Ich kenne nichts Größeres, nichts, was einem wahrhaft großen Menschen besser anstünde, als unser Uns-nicht-Kennen geduldig und ausdrucksstark zu analysieren und die Unbewußtheit unseres Bewußtseins bewußt aufzuzeichnen, die Metaphysik der autonomen Schatten, die Poesie des Dämmerlichts der Ent-Täuschung.
    Doch immer wieder täuscht uns etwas, verliert eine Analyse an Schärfe, wartet die – wenn auch falsche – Wahrheit hinter der nächsten Straßenecke. Und dies ermüdet mehr als das Leben, sofern es denn ermüdet, und mehr als alles Erkennen und Betrachten des Lebens, das uns immer ermüdet.
    Ich stehe auf von dem Tisch, an dem ich mir diese ungeordneten Eindrücke in Gedanken erzählt habe. Ich erhebe mich, stütze meinen Körper auf sich selbst und trete ans Fenster, höher als die umliegenden Dächer, und unter mir die Stadt, die in der langsam beginnenden Stille schlafen geht. Der große, weißweiße Mond erhellt traurig das vielfältig terrassierte Häusermeer. Es ist, als beleuchte sein Licht eisig das Geheimnis der Welt. Es scheint alles zu zeigen: und alles ist Schatten, hie und da ein Einsprengsel von Licht, falsche, uneben absurde Zwischenräume, Ungereimtheiten des Sichtbaren. Nicht ein Windhauch, und das Geheimnis scheint größer. Mein abstraktes Denken ekelt mich. Nie werde ich eine Seite schreiben, die mich oder was auch immer erkennen läßt. Eine leichte Wolke schwebt verschwommen über dem Mond, als wolle sie etwas bedecken. Wie diese Dächer weiß ich nichts. Ich bin gescheitert wie die ganze Natur.

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    Die Hartnäckigkeit instinktiven Lebens in Gestalt menschlicher Intelligenz ist für mich immer wieder Gegenstand tiefgehender Betrachtungen. Die unnatürliche Maskerade des Bewußtseins zeigt mir nur um so deutlicher jene Unbewußtheit, die sie hinter keiner Maske verbergen kann.
    Von der Geburt bis zum Tod lebt der Mensch als Sklave der gleichen Äußerlichkeit, die auch die Tiere bestimmt. Sein Leben lang lebt er nicht, sondern vegetiert, wenngleich auf einer höheren Stufe und auf vielschichtigere Art, als dies Tiere tun. Er befolgt bestimmte Normen, ohne auch nur zu wissen, daß es sie gibt und er sie befolgt, und seine Gedanken, seine Gefühle und sein Tun sind unbewußt – nicht weil ihnen das Bewußtsein fehlte, sondern weil sie nicht zweierlei Bewußtsein besitzen.
    Die vage Vermutung, daß Leben Illusion ist – das, und nicht mehr, macht einen großen Menschen aus.
    Ich denke, während ich meine Gedanken schweifen lasse, über die gewöhnliche Geschichte gewöhnlicher Leben nach. Ich sehe, wie sie in allem Sklaven eines unterbewußten Temperaments sind, äußerer Umstände, sozialer und

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