Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Schicksals auf das Bewußtsein meiner Seele.
Wie anders ist das Leben einer Stadt, in der es Nacht wird. Wie anders ist die Seele eines Menschen, der das Kommen der Nacht betrachtet. Ungewiß und allegorisch gehe ich weiter, unwirklich wahrnehmend. Ich bin wie eine Geschichte, die jemand erzählt hat, so gut erzählt, daß sie Fleisch geworden ist zu Beginn eines der Kapitel dieses Romans, der die Welt ist: »Zu dieser Stunde konnte man einen Mann sehen, der langsam die Straße entlangging …«
Was habe ich zu tun mit dem Leben?
182
Intervall
Ich habe mein Leben verfehlt, noch bevor es begann, denn nicht einmal geträumt erschien es mir reizvoll. Traummüde nahm ich nur falsch noch wahr und äußerlich, als sei ich an das Ende einer unendlichen Straße gelangt. Ich trat über meine Ufer, verströmte mich, wohin weiß ich nicht, und stehe dort nun still, nutzlos. Ich bin etwas, das ich war. Bin nie, wo ich fühle, daß ich bin, und suche ich mich, weiß ich nicht, wer mich sucht. Der Überdruß an allem schwächt mich. Ich fühle mich aus meiner Seele vertrieben.
Ich beobachte mich, bin mein eigener Zuschauer. Meine Empfindungen ziehen wie äußere Dinge vor ich weiß nicht welchem meiner Blicke vorüber. Ich bin mir meiner in allem überdrüssig. Alle Dinge haben, bis tief in das Geheimnis ihrer Wurzeln, die Farbe meines Überdrusses.
Welk schon waren die Blumen, welche die Horen mir gaben. Ich sollte handeln und kann doch nur langsam ihre Blätter zerpflücken. Und so viel Altern liegt darin!
Jedes Tun, sei es noch so gering, fällt mir schwer wie eine Heldentat. Allein die Vorstellung einer Geste, und sei sie noch so klein, ermüdet mich, als wollte ich sie tatsächlich ausführen.
Ich strebe nach nichts. Das Leben schmerzt mich. Ich fühle mich nicht wohl, weder da, wo ich bin, noch dort, wo ich sein könnte.
Ideal wäre, nicht mehr tun zu müssen, als eine Fontäne vorgibt zu tun: in die Höhe schießen, um auf der Stelle niederzufallen, ein unnützes Funkeln in der Sonne, ein Geräusch in der Stille der Nacht, damit, wer träumt, in seinem Traum an Flüsse denkt und selbstvergessen lächelt.
184
22 . 8 . 1931
In jener warmen Zwischenzeit, bevor der Sommer endet und der Herbst kommt, in der die Luft schwer ist und die Farben verblassen, kleiden sich die späten Nachmittage in fühlbar falschen Glanz. Vergleichbar jenen trügerischen Phantasien, in denen Sehnsüchte aus dem Nichts entstehen und sich so unendlich fortsetzen wie die Schlangenlinien aus dem Kielwasser der Schiffe.
An diesen Nachmittagen kommt, wie die Flut im Meer, ein Gefühl in mir auf, schlimmer als Überdruß, für das es dennoch keinen anderen Namen gibt – ein Gefühl nicht zu ortender Verzweiflung, eines Schiffbruchs der ganzen Seele. Ich fühle, daß ich einen nachsichtigen Gott verloren habe und die Substanz aller Dinge gestorben ist. Das fühlbare Universum ist wie ein Leichnam für mich, den ich liebte, als er das Leben war; in dem noch warmen Licht aber der letzten farbigen Wolken hat sich alles in Nichts aufgelöst.
Mein Überdruß wird zum Entsetzen; meine Langeweile ist Angst. Mein Schweiß ist nicht kalt, wohl aber mein Bewußtsein von ihm. Es ist kein körperliches Unwohlsein, sondern ein Unwohlsein der Seele, so groß, daß ich es aus allen Poren schwitze und mein Körper fröstelt.
So immens ist der Überdruß, so beherrschend das Entsetzen, am Leben zu sein, daß ich mir kein Beruhigungsmittel, kein Gegengift, keinen Balsam und kein Vergessen vorstellen kann, die Abhilfe brächten. Vor dem Schlafen graut mir wie vor allem. Vor dem Sterben graut mir wie vor allem. Gehen und Stehen sind mir gleichermaßen unmöglich. Hoffen und nicht glauben sind einander gleich wie Kälte und Asche. Ich selbst bin wie ein Gestell voll leerer Flaschen.
Und doch, welche Sehnsucht nach der Zukunft, wenn ich meine Alltagsaugen den toten Gruß des licht verlöschenden Tages entgegennehmen lasse! Welch großer Trauerzug der Hoffnung zieht durch die noch immer goldene Stille der reglosen Himmel, welch ein Gefolge aus Leere und Nichts schwärmt aus in glutrotem Blau, verblassend auf den weiten Ebenen des weißen Raumes!
Ich weiß nicht, was ich will oder nicht will. Ich weiß nicht mehr zu wollen, ich weiß nicht mehr, wie man will, ich kenne die Emotionen oder Gedanken nicht mehr, an denen man für gewöhnlich erkennt, daß wir etwas wollen oder wollen wollen. Ich weiß nicht, wer ich bin noch was ich bin. Wie einer, der unter
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