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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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Denkvorgang opfert den Gedanken, denn Denken heißt auseinandernehmen. Könnten die Menschen das Geheimnis des Lebens sinnend erfahren, könnten sie die tausend Verstrickungen erahnen, die der Seele bei der geringsten Regung drohen, sie würden nicht einen Finger rühren, geschweige denn leben. Sie würden vor Schreck vergehen, wie all jene, die Selbstmord begehen, um nicht anderentags unter der Guillotine zu enden.

189
    Regentag
    Die Luft ist ein verhülltes Gelb, wie ein blasses Gelb durch ein schmutziges Weiß hindurch gesehen. Im Aschgrau der Luft ist kaum Gelb, und doch hat die Blässe dieses Aschgraus etwas Gelbes in ihrer Traurigkeit.

190
    Jede Verschiebung der gewohnten Stunden bringt dem Geist stets eine kalte Neuheit, ein leicht unbehagliches Vergnügen. Wer daran gewöhnt ist, sein Büro um sechs zu verlassen, und zufällig um fünf gehen kann, erlebt ohne Zweifel einen geistigen Feiertag und fühlt schmerzlich, daß er nicht weiß, was er mit sich anstellen soll.
    Gestern verließ ich um vier das Büro, ich hatte etwas zu erledigen an einem entlegenen Ort, und um fünf hatte ich diesen entlegenen Auftrag ausgeführt. Zu dieser Stunde bin ich für gewöhnlich nicht unterwegs und befand mich daher in einer anderen Stadt. Das langsame Licht auf den bekannten Häuserfassaden schimmerte unerquicklich sanft, und die Passanten von eh und je gingen an mir in der fremd gewordenen Stadt vorüber, Matrosen, die gestern abend von ihrem Geschwader an Land gegangen waren.
    Das Büro mußte um diese Zeit noch geöffnet sein. Ich kehrte dorthin zurück, zum begreiflichen Staunen der Kollegen, von denen ich mich schon verabschiedet hatte. Wie, noch einmal zurück? Jawohl, zurück. Dort, unter all den anderen, die für mich geistig nicht existierten, war ich frei, mußte nicht fühlen … Das Büro war in gewisser Weise mein Heim, das heißt der Ort, an dem man nicht fühlt.

191
    Zuweilen denke ich mit traurigem Vergnügen, daß, wenn einst in einer Zukunft, der ich nicht mehr angehöre, meine Sätze Lob finden und fortdauern, ich endlich die Leute habe, die mich »verstehen«, die Meinen, die wahre Familie, um in ihr geboren und geliebt zu werden. Doch bis dahin ist es noch weit, und ich werde längst gestorben sein. Ich werde nur in effigie , als Abbild verstanden werden, wenn die Zuneigung die Ablehnung nicht mehr ausgleichen kann, die des Verstorbenen Los im Leben war.
    Eines Tages vielleicht wird man verstehen, daß ich wie kein anderer meine naturgegebene Pflicht als Dolmetscher für einen Teil unseres Jahrhunderts erfüllt habe; und hat man das verstanden, wird man schreiben, daß ich zu meiner Zeit ein Unverstandener war, daß ich unseligerweise inmitten von Ablehnung und Kälte lebte und dies ein Jammer ist. Und wer immer irgendwann darüber schreibt, wird einem, der in dieser künftigen Zeit ist, wie ich es war, ebenso verständnislos gegenüberstehen wie meine jetzige Umgebung mir. Denn die Menschen lernen nur, was für ihre bereits verstorbenen Vorfahren von Nutzen gewesen wäre. Nur den Toten vermögen wir die wahren Lebensregeln zu vermitteln.

    Es ist Nachmittag, und während ich dies schreibe, hat es aufgehört zu regnen. Etwas wie Heiterkeit liegt in der Luft, zu frisch für die Haut. Der Tag geht seinem Ende zu, nicht in Grau, sondern in Blaßblau. Und selbst auf dem Straßenpflaster spiegelt sich vage Blau. Zu leben schmerzt, aber nur von weitem. Aufs Fühlen kommt es nicht an. Die ein oder andere Auslage wird erleuchtet. Oben, von einem Fenster aus, beobachten Leute, wie man unten die Arbeit einstellt. Der Bettler, der mich streift, wäre erstaunt, würde er mich kennen.
    Im weniger blassen und weniger blauen Himmel, der sich auf den Fassaden spiegelt, wird die unbestimmte Stunde ein wenig mehr Abend.
    Geh leicht deinem sicheren Ende zu, Tag, an dem sich all jene, die glauben und irren, in ihre übliche Arbeit fügen und in ihrem Schmerz das Glück der Unbewußtheit verspüren. Geh leicht deinem Ende zu, Welle verlöschenden Lichts, Melancholie dieses nutzlosen Nachmittags, Nebel ohne Schleier, der in mein Herz zieht. Geh leicht deinem Ende zu und sacht, unbestimmte, lichtblaue Blässe dieses aquatischen Nachmittags – senke dich leicht, sacht und traurig auf die schlichte kalte Erde. Geh leicht deinem Ende zu, unsichtbar grau, trist, monoton, ein Zuviel und keine Starre!

192
    Drei Tage unvermindert sengender Hitze und gewittergeladener, unbehaglicher Ruhe brachten, da das Gewitter anderswohin

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