Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
daß ich es gefühlt habe. Was immer ich denke, wird sogleich zu Worten, verbunden mit Bildern, die es auflösen, in Rhythmen aufgehen lassen, die etwas anderes bedeuten. Durch mein beständiges Mich-wieder-Zusammensetzen habe ich mich zerstört. Durch mein beständiges Mich-Denken bin ich meine Gedanken geworden, nicht aber ich selbst. Ich habe mich ausgelotet und das Lot fallen gelassen; und nun frage ich mich Tag für Tag, ob ich tief bin oder nicht, und habe als einziges Lot nur mehr meinen Blick, der mir klar auf schwarzem Grund im Spiegel eines tiefen Brunnens mein Gesicht zeigt, das mich, es betrachtend, betrachtet.
Ich bin wie eine Spielkarte, eine alte, unbekannte Farbe, die einzig verbliebene eines verlorengegangenen Spiels. Ich habe keinen Sinn, ich kenne meinen Wert nicht, ich habe nichts, womit ich mich vergleichen könnte, um mich zu finden, ich habe nichts, was mir helfen könnte, mich zu erkennen. Und so, mich Bild um Bild beschreibend – einmal mehr, einmal weniger wahrheitsgetreu –, bin ich eher in den Bildern als in mir selbst, sage, wer ich bin, bis ich nicht mehr bin, schreibe mit meiner Seele wie mit Tinte, einzig zum Schreiben zu gebrauchen. Doch meine Reaktion läßt nach, und ich resigniere erneut. Ich kehre in mich zurück, zu dem, was ich bin, auch wenn es nichts ist. Und etwas wie nicht geweinte Tränen brennt in meinen starren Augen, etwas wie eine nicht empfundene Angst sitzt mir rauh in der trockenen Kehle. Doch ich weiß nicht einmal, worüber ich geweint hätte, hätte ich es denn getan, noch warum ich es nicht getan habe. Die Fiktion folgt mir wie mein Schatten. Und ich möchte nur noch schlafen.
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Ich verspüre eine große Müdigkeit in der Seele meines Herzens. Mich betrübt, der ich niemals war, und ich weiß nicht, welcher Art die Sehnsucht ist, die meine Erinnerung an ihn wachruft. Ich bin gefallen, habe mich an Hoffnungen gestoßen und Gewißheiten – mit jedem Sonnenuntergang.
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Es gibt Menschen, die tatsächlich darunter leiden, daß sie im wirklichen Leben weder mit Mr.Pickwick zusammenleben noch Mr.Wardle die Hand schütteln konnten. Ich bin einer von ihnen. Ich habe wahre Tränen vergossen über diesem Roman, weil ich nicht in jener Zeit gelebt habe, mit jenen Menschen, wirklichen Menschen.
Die Dramen in Romanen sind immer schön, in ihnen fließt kein echtes Blut, die Toten verwesen nicht, noch ist die Fäulnis verfault.
Auch wenn Mr.Pickwick lächerlich wirkt, ist er es nicht, da er es in einem Roman ist. Vielleicht ist der Roman eine vollkommenere Wirklichkeit, ein vollkommeneres Leben, das Gott durch uns erschafft. Vielleicht existieren wir nur, um zu erschaffen. Zivilisationen existieren anscheinend, um Kunst und Literatur hervorzubringen; denn was von ihnen spricht und bleibt, sind Worte. Warum also sind diese außermenschlichen Figuren nicht wahr und wirklich? In meiner geistigen Existenz schmerzt mich die Vorstellung zutiefst, daß dies so sein könnte …
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3 . 9 . 1931
Die Gefühle, die am meisten schmerzen, die Emotionen, die am meisten quälen, sind zugleich die absurdesten – das Verlangen nach Unmöglichem, weil genau es unmöglich ist, die Sehnsucht nach dem, was niemals war, der Wunsch nach dem, was hätte sein können, der Kummer, kein anderer zu sein, Unzufriedenheit mit der Existenz der Welt. All diese Halbtöne des seelischen Bewußtseins schaffen in uns eine schmerzliche Landschaft, einen ewigen Sonnenuntergang dessen, was wir sind. Unser Selbstgefühl ist dann ein verlassenes Feld in der Dämmerung, traurig mit Schilf an einem Fluß ohne Boote, der hell zwischen weiten Ufern dunkelt.
Ich weiß nicht, ob diese Gefühle Ausdruck einer allmählich in Wahnsinn umschlagenden Trostlosigkeit sind oder Nachklänge einer anderen Welt, in der wir vielleicht gelebt haben – sich überlappende, vermischende Nachklänge, wie im Traum erlebte Dinge, die uns absurd erscheinen, es aber nicht wären, könnten wir sie uns erklären. Ich weiß nicht, ob wir nicht andere Wesen waren, deren größere Vollständigkeit wir heute, als ihre Schatten, unvollständig wahrnehmen – sie haben ihre Festigkeit verloren, und wir können sie uns schlecht vorstellen in der Zweidimensionalität des von uns gelebten Schattens.
Ich weiß, diese Gedanken der Emotion wüten schmerzlich in unserer Seele. Die Unmöglichkeit, uns etwas vorzustellen, dem sie entsprechen könnten, die Unmöglichkeit, etwas zu finden, mit dem sie in unserer Vorstellung
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