Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
einmal Platz genommen und das Programm geöffnet hatte, war es zu spät, sich unter irgendeinem Vorwand zu verabschieden.
Zehn Stücke waren aufgelistet.
Zehn.
Victoria unterdrückte ein Stöhnen. Sie mochte Mozart und Bach genau wie jeder andere, aber zehn verschiedene Stücke durchzustehen - jedes davon mit drei Sätzen - war einfach zu viel. Sie warf einen verstohlenen Blick zu den anderen Anwesenden, um zu sehen, ob es irgendwelche entsetzten Gesichter gab, aber sie entdeckte keine.
Sie würde es einfach über sich ergehen lassen müssen.
Anfangs hörte Victoria zu. Sie gab sich wirklich Mühe, zuzuhören. Sie saß direkt neben ihrer Mutter und nahm sich so viel Zeit wie möglich, um ihre zarten Röcke in lockeren Falten über die Knie und den Stuhl zu drapieren. Dann verschränkte sie mit ihrem Pompadour unter den Fingern sittsam die Hände im Schoß. Sie konnte die Umrisse der kleinen Glasphiole in dem Täschchen spüren, was ihr wieder den kreischenden Schmerz in Erinnerung rief, den sie verspürt hatte, als Max sein gesalzenes Weihwasser auf den Biss gegossen hatte. Verbena hatte irgendwo eine kleine Flasche aufgetan und sie gefüllt, sodass Victoria nun ihre eigene hatte.
Ihren düsteren Gedanken an Max’ herablassende Bemerkungen und den Schmerz nachzuhängen, den er ihr ohne Vorwarnung zugefügt hatte, beschäftigte Victoria für etwa drei Sätze eines Mozart-Quartetts. Erst als sie bemerkte, dass sie aufgehört hatte, ihren Pompadour vor Ärger zu zerknautschen, und dazu übergegangen war, ihren Seidenrock zu malträtieren, wurde ihr klar, dass sie über etwas weniger Enervierendes nachdenken musste als Max.
Vielleicht würde heute Abend ein Vampir anwesend sein, sodass sie eine Rechtfertigung hätte, aus dem Saal zu schlüpfen. Victoria hielt den Atem an und konzentrierte sich auf die Empfindungen in ihrem Nacken.
Er fühlte sich kein bisschen kalt an.
Oder vielleicht würde irgendein anderer wollüstiger Gentleman versuchen, sich an einer der jungen Damen zu vergreifen, sodass Victoria die Chance bekäme, ihm eine Lektion zu erteilen.
Sie versuchte erneut, der Musik zu lauschen. Und es gelang ihr tatsächlich, jeder der vier Straithwaite-Töchter und dem Arrangement ihrer Instrumente während eines Bach’schen Pianokonzertes ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Sie schaffte es, dem Fallen und Steigen der Melodie drei ganze Sätze lang zu folgen - was sie als ziemliche Leistung empfand.
Doch dann sah sie hinunter auf das Programm und stellte fest, dass das Konzert noch nicht einmal zur Hälfte vorüber war.
Und ihr Nacken war immer noch warm.
Mit einem unterdrückten Seufzen begann sie, über Rockley nachzudenken.
Es war ein köstliches Vergnügen, sich daran zu erinnern, wie sie geschmeidig über das Parkett geglitten waren, während seine Arme sie gerade so eng an ihn schmiegten, dass es noch schicklich war, und doch nahe genug, dass sie seine Wärme wahrnahm und den leicht rauchigen Duft seiner Jacke. Die Art, wie er sie mit diesen schläfrigen Augen angesehen hatte, weckte in ihr den Wunsch, die eigenen zu schließen und sich ganz der Erinnerung hinzugeben.
Sie wollte ihn küssen. Ohne jeden Zweifel. Sie wusste, dass ein Kuss des Marquis kein Vergleich zu dem wäre, den der Viscount Walligrove ihr aufgezwungen hatte. Von Küssen zu träumen mochte kein angemessener Zeitvertreib für eine junge Dame sein, andererseits trugen die meisten jungen Damen auch keine Eschenholzpflöcke in ihrem Haar, um mit ihnen auf Vampirjagd zu gehen.
Noch besaßen sie die Kraft oder die Fähigkeit, einen erwachsenen Mann in die Knie zu zwingen.
Es war eine berauschende Macht.
Das Einzige, was ihre freudige Erinnerung an ihren Tanz mit Rockley trübte, war die Art, wie er Max angesehen hatte.
Und dieser Gedanke brachte sie von neuem dazu, über den großmeisterlichen Vampirjäger nachzugrübeln. Seine Arroganz und scharfe Zunge strapazierten ihre Nerven. Und die Blicke, mit denen er sie bedachte, wenn sie einen Ball oder eine Dinnerparty auch nur erwähnte… so als ob es sich gegenseitig ausschlösse, ein Venator zu sein und ein gesellschaftliches Leben zu führen. Ihre Finger zerknüllten wieder ihre Röcke.
Sie spürte einen spitzen Ellbogen in der Seite und drehte sich zu ihrer Mutter um, die stirnrunzelnd auf Victorias Hände starrte. Mit einem entschuldigenden Lächeln gab sie den armen Stoff frei, dann versuchte sie ein weiteres Mal, sich auf die Musik zu konzentrieren.
Das siebte
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