Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
Versuch... Ihre Hände fühlten sich schwach und zittrig an. Sie schloss die Finger um ihn, zwang
sie, zuzupacken, während schon die Bewusstlosigkeit heraufdämmerte.
Wusch!
Sie stieß zu und traf ihn, wie schon zuvor seinen Komplizen, ins Auge. Zwei geblendete Vampire in einer Nacht zu ihren Gunsten; aber das war nicht genug. Victoria stemmte sich hoch, als er sich mit einer Hand auf dem verletzten Auge aufrichtete, rammte ihm den Pflock in die Brust - und er war verschwunden. Fft!
Gebückt und um Atem ringend blieb sie einen Moment lang stehen. Als der Sauerstoff schließlich in ihre Lungen zurückkehrte, dachte sie, dass sich noch nie etwas so gut angefühlt hatte. Sie lauschte.
Nichts.
Stille.
Nur die leisen Hufschläge eines Pferdes in der Ferne.
Das Buch.
Er musste es fallen gelassen haben. Victoria kroch durch das Unterholz, bis sie es fand. Sie streckte die Hand aus, zögerte, dann hob sie es auf. Nichts passierte.
Mit einem Seufzer der Erleichterung hängte sie sich die klobige Tasche um und klemmte sie unter ihren Arm.
Was nun?
Sollte sie zurückgehen und nachsehen, ob Max Hilfe brauchte?
Was, wenn nicht? Was, wenn er inzwischen …
Nein, sie sollte das Buch lieber sicher nach Hause bringen, anschließend konnte sie dann immer noch feststellen, was mit Max geschehen war. Ob es ihm gut ging.
Gott, sie hoffte, dass es ihm gut ging.
Falls nicht, war es ein edelmütiges Opfer gewesen.
Falls nicht, war sie von nun an auf sich allein gestellt.
Victoria entfernte sich von den Stallungen und ging hinaus in die Nacht.
Kapitel 13
Der Marquis macht eine unwillkommene Ankündigung
Eine Mietdroschke - nicht Barths - brachte sie nach Hause. Victoria behielt das Buch des Antwartha während der Fahrt auf dem Platz neben sich und versuchte, nicht an Max zu denken. Da er sich so große Mühe gegeben hatte, sie zu beeindrucken, war er wohl durchaus in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Außerdem wusste sie, dass er es lieber sah, sie kümmerte sich um das Buch, jetzt, da es in ihrem Besitz war, statt seinen Verlust zu riskieren, indem sie ihm zu Hilfe eilte.
Als die Droschke Grantworth House erreichte, stieg Victoria mit ihrem schweren Bündel unter dem Arm aus und schlug die Tür hinter sich zu. Die Fenster des Hauses waren dunkel, mit Ausnahme der einzelnen Lampe im vorderen Salonfenster. Es war schon fast vier Uhr; ihre Mutter sollte inzwischen von dem Ball, den sie besucht hatte, zurück sein; vermutlich lag sie schnarchend in ihrem Bett. Victoria klatschte dem Fahrer eine
Münze in die Hand, dann drehte sie sich um und lief die Treppe hinauf.
Da fühlte sie plötzlich einen eisigen Luftzug über ihren Nacken streichen.
Zur Hölle.
Schon wieder?
Sie langte nach dem Pflock, von dem sie geglaubt hatte, sie würde ihn in dieser Nacht nicht mehr brauchen, und ließ den Blick über die Straße wandern. Dann wurde ihr am ganzen Körper kalt.
Ihre Mutter war in der Tat zu Hause. Aber sie lag nicht in ihrem Bett.
Nein. Die Kutsche der Grantworths stand grün und golden schimmernd unter der Straßenlaterne, wo sie nicht hingehörte. Und der Mann auf dem Kutschbock, der die Zügel der ungewöhnlich stillen Pferde hielt, war nicht ihr Fahrer.
Victoria blickte unwillkürlich auf ihre Tasche hinunter, dann zurück zur Kutsche. Wie viele mochten es sein? Wie sollte sie mit einer Hand das Buch umklammernd gegen sie kämpfen? Sie konnte es nicht weglegen.
»Venator!«, rief jemand.
Victoria drehte sich um und sah vier Vampire - Wächter, wie sie anhand der Tatsache, dass ihre Augen eher rubin- als granatrot waren, feststellte - hinter der Kutsche auftauchen. Einer von ihnen, eine hochgewachsene Frau mit karmesinrotem Haar, hatte sie angesprochen.
»Ich hoffe, ich habe euch nicht von eurer nächtlichen Pirsch abgehalten«, erwiderte Victoria mit einer Ruhe, die sie nicht empfand. »Meine Arbeit heute Abend hat ein wenig länger gedauert,
als ich erwartet hatte.« Während sie redete, sah sie sich um und stellte Berechnungen an, obwohl sie noch immer Mühe hatte, zu begreifen, dass ihre Mutter tatsächlich in der Gewalt von fünf Vampiren war.
Wie viele von diesen verdammten Kreaturen gab es bloß in London?
Dieser absurde Gedanke zeigte nur, wie erschöpft und frustriert sie war, aber Victoria konnte sich dem jetzt nicht hingeben. Ihre Mutter war in der Kutsche, und Victoria musste sie retten.
Die rothaarige Vampirin war nun nahe genug, dass Victoria ihren düsteren, staubigen, trockenen Geruch
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