Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
herausgenommen, die ihr Verlobter sich nicht erlaubt hätte. Und auf gewisse Weise hatte er ihr einen weiteren Teil ihrer Naivität genommen. Ihr genau gezeigt, warum Frauen Handschuhe trugen. Die ganze Zeit über.
»Victoria.«
»Nichts. Er hat meinen Handschuh behalten, aber sonst nichts genommen. Ich bin ein Venator, Max. Er ist kein Gegner für mich.«
Es hätte ein Lachen sein können, das da seinen Lippen entschlüpfte; Victoria konnte es nicht mit Gewissheit sagen. Doch er erwiderte nichts, sondern wandte sich einfach ab und sah wieder aus dem Fenster.
Sie setzten ihre Fahrt eine Weile schweigend fort, dann sagte sie: »Danke. Für das, was Sie heute Nacht getan haben.«
Das lenkte seine Aufmerksamkeit von der vorbeiziehenden Kulisse ab. Düster und zornig schaute er sie von der gegenüberliegenden Ecke des engen Passagierraums aus an. »Rockley hatte keine Ahnung, in was er da heute Abend hineingeraten ist. Und das ist genau der Grund, warum Sie nicht heiraten dürfen, Victoria. Eure beiden Welten dürfen sich nicht kreuzen, so wie sie es heute getan haben. Diesen Weg weiterzugehen würde nur noch mehr Unheil nach sich ziehen.«
Mit diesen Worten wandte er sich wieder zum Fenster und verstummte.
Victoria schlief nicht gut in dieser Nacht. Ein Chaos von Bildern, die aufeinander einstürmten, füllte ihre Träume. Phillip und Sebastian, Tante Eustacia und Max, Worte und Stimmen, die sich mischten: Ich wollte schon immer mal einen weiblichen Venator kosten... Sie dürfen nicht heiraten... Ich würde alles geben, um das zu sehen... Weiß er, dass sie sich nachts auf den Straßen herumtreibt?... Was hat er sonst noch genommen?
Als sie aufwachte, strahlte die Sonne durch das Fenster - ein krasser Gegensatz zu der Düsternis, mit der ihre Erinnerungen aufeinandergeprallt waren. Es war schon fast elf Uhr. Madame LeClaire würde in zwei Stunden für ihre Anprobe eintreffen.
Ihre Brautkleidanprobe.
Victoria presste eine Hand auf ihre Augen. Hatte Max Recht? Würde sie weiteres Unheil heraufbeschwören, wenn sie Phillip heiratete?
Ihr Magen krampfte sich zusammen, aber es lag nicht daran, dass sie nichts gegessen hatte. Wie könnte sie Phillip nicht heiraten? Den charmanten, humorvollen, gut aussehenden Phillip?
Den Mann, der sie zum Lachen brachte, der mit ihr scherzte, der ihr half, das Absurde der Gesellschaft, in der zu leben sie gezwungen war, zu sehen. Der ihr Blumen brachte, nachdem sie ihm einen Rüffel erteilt hatte. Dieser Mann, der das Richtige tat, das, was von ihm erwartet wurde. Ein Mann, den sie verstehen konnte.
Er war ihr letzte Nacht gefolgt. War ihr in ein Hornissennest voller Vampire gefolgt, ohne einen Gedanken an seine eigene Sicherheit zu verschwenden, ohne zu wissen, in was für eine Welt er da eindrang. Wenn sie ihn heiratete, würde sie dann in der Lage sein, ihr Geheimnis zu bewahren? Würde sie es müssen? Wenn sie ihm sagte, dass sie ein Venator war und damit besser geschützt als jeder andere, würde er dann verstehen?
Er hatte seine Geständnisse abgelegt - harmlos, wie sie waren. Schuldete sie ihm denselben Gefallen?
Sebastians Worte verfolgten sie. Weiß er, dass sie bedeutet, dass sich seine Liebste nachts auf den Straßen herumtreibt? Und sie sich unter die Wesen der dunklen Seite mischen muss, um ihre Geheimnisse zu ergründen? Dass sie tötet, jedes Mal, wenn sie ihre Waffe erhebt? Dass sie über eine Stärke verfügt, die er selbst nie besitzen wird?
Wie könnte er verstehen? Sie selbst hatte Wochen dazu gebraucht, und dabei war sie zu dieser Pflicht berufen worden.
Er war so gut, so anständig. Wie könnte er mit einer Frau verheiratet sein, die das Böse jagte? Die grausam war, die tötete? Er könnte so etwas nie akzeptieren - und sollte es auch nicht müssen.
Er könnte ihre Welt nicht begreifen. Tante Eustacia und Max und Kritanu, sogar Verbena und Barth - sie alle begriffen sie. Sie alle waren Teil dieser Welt, dieses Lebens.
Phillip war das nicht und würde es nie sein.
Sie holte tief Luft; sie wusste, was sie zu tun hatte.
Ein enger Knoten schnürte ihr die Kehle zu, als sie begann, sich ein Leben ohne Phillip auszumalen. Ein Leben, das daraus bestand, in dunklen Straßen zu lauern, in unterirdischen Kneipen, in dem Bedürfnis, zu jagen und zu töten. Das Ende von Tanzen und Lachen, ohne jede Hoffnung darauf, jemanden zu haben, den man liebte, der für einen da war.
Vielleicht erklärte das Max’ Wesen: sein ganzes Gebaren, sein unterschwelliger
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