Das Buch der Vampire 02 - Schwärzeste Nacht
»Ich habe mich schon gefragt, warum nicht er derjenige ist, der sich um das Problem mit der Tutela kümmert. Ich habe nichts über ihn gehört, aber das muss nichts heißen. Du fürchtest, er könnte tot sein?«
»Ich weiß es nicht. Meiner Tante zufolge haben wir schon seit acht Monaten keine Nachricht mehr von ihm. Ah, wir sind da«, bemerkte Victoria mit einem Blick aus dem Fenster. »Danke für deine Informationen, Sebastian. Ich werde deinen Rat befolgen
und mit Byron anfangen, sobald ich Venedig erreiche. Aber du hättest mir das in einem kurzen Schreiben mitteilen können, anstatt dir die Mühe zu machen, mich persönlich aufzusuchen.«
Da war es wieder, dieses Lächeln. »Leider fällt es mir schwer, mir eine Gelegenheit, dich zu sehen, entgehen zu lassen.«
Sie sah ihn strafend an, dann wandte sie den Kopf zur Seite. Sie hatte Mühe, dieses intensive Kribbeln in ihrem Bauch zu ignorieren. »Ich bin sicher, du hast dich während deines einjährigen, höchst gelegen kommenden Verschwindens vor Sehnsucht nach mir verzehrt.«
»Nein... Ich habe dir Zeit gegeben zu trauern.«
Diese schlichten, nüchternen Worte ließen sie den Blick wieder auf ihn richten. Er schien näher gekommen zu sein; vielleicht saß er auf der Kante seiner Sitzbank, vielleicht beugte er sich nach vorne... Oder vielleicht war auch die Kutsche bloß noch ein Stückchen kleiner geworden.
Er machte nicht den Eindruck, als wartete er auf eine Erwiderung oder hielte den Atem an, um zu sehen, wie sie reagieren würde. Er sah sie einfach an, als wollte er ihr Antlitz in sich aufsaugen. Erschrocken stellte sie fest, dass ihre Finger zitterten; sie sah nach unten und verschränkte sie im Schoß. »Ein derartiges Einfühlungsvermögen hätte ich dir gar nicht zugetraut«, entgegnete sie mit bewusst ruhiger Stimme.
Plötzlich wollte sie gar nicht mehr fort. Es würde einsam sein in Venedig, mit niemandem als Verbena, Oliver und natürlich Eustacia zur Gesellschaft; allerdings würde sie nicht mit ihrer Tante zusammenwohnen, denn sie mussten vorgeben, sich nicht zu kennen, um zu verhindern, dass die Tutela Victoria als Venator identifizierte.
Sie traute Sebastian zwar nicht vollständig, aber trotzdem verband
sie eine Art von Nähe. Zumindest ließ er sie... irgendetwas empfinden. Bei ihm fühlte sie sich lebendig. Attraktiv.
Und immer wenn er sie so ansah, wie er es jetzt gerade tat, gab er ihr das Gefühl, dass sie mehr war als eine Jägerin, eine Kriegerin.
»Ich möchte dich nicht gern enttäuschen, meine Liebe«, erwiderte er mit trockener Stimme, »aber meine Nächstenliebe war von eigennützigerer Natur, als du möglicherweise denkst.«
Die Kutsche hatte schon lange angehalten, und Victoria spürte das Ruckeln und Schaukeln, als Oliver ihre restlichen Gepäckstücke ablud. Sie hörte die Rufe, Befehle und dumpfen Geräusche, als ihre Koffer hochgehoben und nicht gerade sanft auf den Kai befördert wurden.
Victoria bemerkte den verschlossenen Ausdruck auf Sebastians Gesicht und überlegte, weshalb er sich wohl plötzlich wieder in sich zurückzog.Vielleicht war die Intensität echter Gefühle zu viel für ihn. Sie zog eine Braue hoch und folgte seinem Beispiel, indem sie antwortete: »Du? Eigennützig? Das kannst du doch nicht ernst meinen?«
»Aber natürlich. Der Grund war selbstverständlich der, dass nicht einmal ich eine... Belohnung... für meine Hilfe und Unterstützung erwarten konnte, solange sich keine passende Gelegenheit ergab. So wie sie nun durch Polidori und die derzeitige Situation eingetreten ist.«
Victoria spürte, wie Röte ihre Haut vom Dekolleté bis zum Hals zu überziehen begann. Sie gebot ihr Einhalt, indem sie sich auf ihre wachsende Verärgerung konzentrierte. »Du erwartest eine Belohnung für deine Informationen über Polidori?«
»War das nicht von jeher unsere Vereinbarung?«
»Du magst eine solche Vereinbarung getroffen haben, ich
nicht. Was verlangst du - möchtest du meine vis bulla noch einmal sehen?«
Er bedachte sie mit einem derart wilden Grinsen, dass es Victoria durch Mark und Bein ging. »Ich habe sie nicht nur gesehen, sondern auch geküsst, wie du sehr wohl weißt.« Seine Worte, die Erinnerung, schienen die ganze Luft in der Kutsche aufzubrauchen. Victorias Handflächen wurden feucht, ihr Gesicht glühte. Seine Stimme entsprach seinem Grinsen, als er fortfuhr: »Tatsächlich ist mein Preis gestiegen.«
»Das soll wohl ein Scherz sein.« Sie musste den Mantel der Empörung um sich
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