Das Buch der Vampire 02 - Schwärzeste Nacht
legen, um die ambivalenten, beunruhigenden Gefühle zu kaschieren, die in ihr tobten. Da die Worte, Argumente, alle Logik ihr den Dienst versagten, fiel ihr keine bessere Erwiderung ein, als: »Ich begebe mich in Kürze an Bord eines Schiffes!« Der Satz war durch das Gekreische der Möwen und die Rufe der Seeleute kaum zu hören.
»Ich nehme gern eine Vorauszahlung entgegen.« Er hatte während dieser letzten Momente kaum geblinzelt, sondern sie mit den Augen gefangen gehalten. »In Anbetracht deiner früheren Bereitwilligkeit sollte dir das nicht allzu viel ausmachen.«
Sie hätte widersprechen, hätte ihm mit dem gleichen Spott begegnen oder sich beleidigt zeigen können... Aber sie tat nichts dergleichen. Sie entschloss sich willentlich, es zu unterlassen und die Dinge stattdessen selbst in die Hand zu nehmen, so wie sie es sich in anderen Bereichen ihres Lebens zur Gewohnheit gemacht hatte.
Ihr Atem schien in ihren Lungen anzuschwellen und sie ganz zu füllen, als sie sich auf ihn zubewegte. Sie lehnte sich auf ihrer Sitzbank nach vorn, fasste nach seinen Schultern und schloss die Finger um das feine, schwarze Leinen, das sie umhüllte.
Er schmeckte nach den Nelken, die auch seine Kleidung parfümierten, und fühlte sich weich, schlüpfrig, gefährlich an. Es war kein ungezwungener Kuss, kein sanftes Aufeinandertreffen von Lippen. Er war weder zärtlich noch zögerlich. Er war heiß und gierig, die Entladung aufgestauter Begierde.
Als Victoria wieder zu sich kam und den Lippenkontakt beendete, war ihr Gesicht nahe an seinem, und ihre Hände lagen an seinem Hinterkopf. Er sah sie mit seltsamer Miene an, dann entließ er sie sanft aus seiner Umarmung.
»Für den Anfang wird das zweifellos genügen.« Trotz seiner leichten Worte flackerte seine Stimme wie eine Kerzenflamme in einem Bett aus Wachs. »Ich kann es kaum erwarten, den Restbetrag einzufordern.«
Sie glättete ihm das lohfarbene Haar, das durch ihre ungestümen Finger noch mehr in Unordnung geraten war. »Da wirst du dich eine sehr lange Zeit gedulden müssen, Sebastian.« Damit schlüpfte sie aus der Kutsche.
Kapitel 9
In welchem Mrs. Emmaline Withers eine italienische Contessa verärgert
V enedig zeigte sich, wie Victoria erfahren musste, in den späten Sommermonaten nicht gerade von seiner besten Seite. Obwohl sich der September bei ihrer Ankunft schon dem Ende zuneigte, war es noch immer heiß und sonnig. Die Stadt selbst, die wie ein großer Fisch geformt war, dessen Schwanzflosse auf das Adriatische Meer zeigte, strahlte mit ihren schimmernden Gondeln, die über die Kanäle glitten, eine verträumte Ruhe aus, doch der Müllgestank, der vom Wasser aufstieg, wurde durch die Hitze noch verschlimmert.
»Und da beschwer ich mich drüber, wie’s in London stinkt, wenn’s heiß ist«, meckerte Verbena, die gerade in Victorias Handtasche nachsah, ob sich darin auch bestimmt eine Phiole mit gesalzenem Weihwasser befand. Seit ihre Herrin von einem Vampir gebissen worden war und die Wunde mit Weihwasser hatte behandelt werden müssen, hatte Verbena es sich zur Verantwortung gemacht, stets dafür zu sorgen, dass Victoria ein wenig davon bei sich trug. »Aber die Stadt hier ist ja noch viel schlimmer! Diese ganzen toten Fische, die überall rumtreiben, und dann dieses schleimige Seegras und dieses stinkige grüne Zeug, das da auf dem Wasser wächst, also ich kann mir wirklich nicht denken, warum irgendeiner im Sommer hier
leben möchte! Aber dieser Oliver. Er sagt, es wär gar nicht so schlimm, weil er nämlich findet, dass es in der Stadt kein bisschen übler riecht als auf irgendnem Bauernhof. Das ist mir mal’n echter Landbursche. Hat seine Nase vermutlich auf seinem Hof in Cornwall vergessen.«
Kopfschüttelnd legte sie Victorias Täschchen zurück auf den Frisiertisch. »Ich versteh immer noch nicht, warum mein Vetter Barth seine Droschke nicht bei jemand anderem gelassen hat und mit uns gekommen ist, statt seinen Kumpel Oliver zu schicken. Vielleicht ist er ja nicht der beste Kutscher - es stimmt schon, Oliver fährt ein bisschen vorsichtiger - aber ganz sicher hat er seine Sinne beieinander, wenn es um Vampire geht. Hat immer ein Kruzifix und Weihwasser und’nen Pflock dabei. Er würde uns in der Stadt hier mehr nutzen als dieser Grünschnabel von einem Bauernlümmel.«
»Oliver scheint trotz seiner Größe ein sehr sanftmütiges Naturell zu haben«, entgegnete Victoria. »Hat er dir irgendwelchen Ärger gemacht?«
Ȁrger? Nee, der
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