Das Buch der Vampire 03 - Blutrote Dämmerung
einfacher gewesen zu sterben, als mit der Schuld zu leben - ungeachtet der Tatsache, dass das, was er getan hatte, zum Wohle der Menschheit geschehen war. Dass Eustacia selbst es ihm befohlen hatte. Das war auch der einzige Grund, warum Victoria ihn nicht hassen konnte - sie wusste, dass er keine Wahl gehabt hatte.
»Ich lebe noch, oder etwa nicht?« Er schaute sie an, während sie an der Mauer emporstarrte. Sie war nun schon seit mehr
als vier Monaten in Rom und hatte trotzdem bis jetzt nie die Zeit gefunden, das Kolosseum zu besuchen. »Willst du hineingehen? Während der letzten hundert Jahre ist es so oft geweiht worden, dass sich mit Sicherheit keine Vampire darin verstecken. Falls du bereit bist, deinen Patrouillengang für eine Weile zu unterbrechen, könnten wir es uns ansehen.«
»Ja.«
Es kam ihr seltsam vor, so kameradschaftlich mit Max durch einen der dunklen Torbogen zu gehen, statt auf den Straßen zu bleiben und nach einem Gefecht mit Untoten Ausschau zu halten. Nachdem sie die Außenmauer durchquert hatten, fanden sie sich in einem Gang wieder, der ringförmig den gesamten Innenbereich des Gebäudes umschloss, während weitere Torbogen zu den Sitzreihen führten.
»Willst du die ganze Nacht damit zubringen, im Kreis zu laufen?«, fragte Max nach einer Weile. »Oder würdest du jetzt gern die Arena sehen?«
Victoria lachte kurz auf. Sie war ein wenig nervös, ohne genau zu wissen, warum. Schließlich war es doch bloß Max. »Ja, natürlich.« Sie drehte sich im selben Moment, als Max stehen blieb, so abrupt zu einer der Arkaden um, dass sie heftig mit ihm zusammenstieß und sich die Stirn schmerzhaft an seinem Kinn anschlug, während ihre plötzliche Bewegung sie in einer unerwarteten Umarmung vereinte.
Er legte seine starken Hände um ihre Arme und brachte Victoria, die sich leise gedemütigt fühlte, wieder ins Gleichgewicht. Sie hatte ganz vergessen, wie groß er war. »Verzeihung«, murmelte sie höflich, bevor sie sich von ihm löste und ihren Weg ins Innere des Amphitheaters fortsetzte. Ihr Herz pochte
laut; sie hätte sich gar nicht tölpelhafter und ungeschickter fühlen können.
»Diesen Eingang nennt man Vormitorium«, erklärte Max, so als sei nichts geschehen - und es war ja auch nichts geschehen, ermahnte sie sich selbst, außer, dass sie für einen Augenblick alle venatorische Anmut verloren hatte. Und das vor Max. »Wegen der Zügigkeit, mit der ganze Horden von Menschen durch ihn in das Theater oder aus ihm herausgeschleust werden konnten. Hast du dir den Kopf verletzt?«
Sein Kinn hatte sich als ebenso hart und unnachgiebig erwiesen, wie es immer schon gewirkt hatte, und der Zusammenstoß war schmerzhaft gewesen. »Ich bin ein Venator, deshalb glaube ich nicht, dass es eine Beule geben wird«, antwortete sie leichthin.
»Das Moos, das hier wächst, kann manchmal ziemlich rutschig sein«, fügte er hinzu, als sie aus dem kurzen Tunnel herauskamen. »Sei vorsichtig.«
»Hier gibt es überall Moos, und auch andere Pflanzen.« Victoria überblickte die düstere Weite dessen, was einst eine prächtige Arena gewesen war. »Es ist alles so verwildert.«
»Hier gedeihen viele der Heilkräuter und -pflanzen, die Hannever für seine medizinischen Anwendungen im Konsilium braucht. Es gibt Hunderte davon, und vermutlich wurden sie im Laufe der Zeit absichtlich oder zufällig aus den weit entlegenen Gebieten des Römischen Reiches hierher gebracht. Es ist wirklich ein Glück, dass es diese Vielfalt gibt.«
Er hielt die Augen auf den Turnierplatz unter ihnen gerichtet, und als Victoria ihn nun von der Seite ansah, blieb ihr Blick an seinem Profil haften. Mit seiner langen, geraden Nase, der
ausdrucksstarken Stirn und den scharf geschnittenen Zügen hätte er einer der Gladiatoren sein können, die einst dort unten gekämpft haben mussten. Oder vielleicht ähnelte er sogar mehr noch einem Senator, der in diesen Rängen gesessen und zugeschaut hatte. Auf jeden Fall sah er stark, mächtig und römisch aus.
Max musste bemerkt haben, dass sie ihn anstarrte, denn er drehte sich zu ihr um. »Was ist?«
»Nichts. Aber im Moment klingst du mit deinen historischen Erklärungen ein wenig wie Zavier. Darauf war ich nicht gefasst.«
»Ja, Zavier zeigt sich unter anderem in höchstem Maße an der Geschichte unserer weiblichen Venatoren interessiert«, erwiderte Max trocken. »Aber dieser Ort übt eine fast schon magische Anziehungskraft auf mich aus. Irgendwo dort unten -«, er streckte den Arm aus
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