Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
besser sehen konnte, als sie eigentlich sollte.
Ein Frösteln kroch ihr über den R ücken. Vampire konnten im Dunkeln gut sehen.
Sie stapfte so schnell und leise durch den Unrat wie möglich und fand schon bald den Weg, der zur Oberfläche führte. Der Morgen brach gerade an, was erklärte, warum sie dem Vampir begegnet war. Wahrscheinlich war er auf dem Weg zu der Stelle gewesen, wo sie sich am Tage sammelten. Es grenzte an ein Wunder, dass sie keinen weiteren Untoten begegnet war.
Sobald sie aus dem Abwassersystem heraus war, eilte sie durch die Straßen und suchte nach Hinweisen, die sie wiedererkannte. Während sie ging, stellte sie fest, dass sie keine Ahnung hatte, wie lange sie eigentlich fort gewesen war. War dies der Morgen nach der Kutschfahrt in den Park … oder bereits der nächste? Oder der übernächste?
Victoria erreichte ihr Stadthaus, als der untere Rand der Sonne den Horizont berührte. Sie hob die Hand, um an die Tür zu klopfen, doch sie wurde schon aufgerissen, ehe sie die Gelegenheit dazu bekam.
»Kritanu«, sagte sie erleichtert. Er war wohlauf.
»Victoria!« Seinem breiten Grinsen nach war er genauso erfreut, sie wiederzusehen. Aber seine offensichtliche Freude schwand fast schlagartig.
»Ehe ich erzähle, was mir widerfahren ist«, sagte sie, während sie ins Haus trat und die Tür hinter sich schloss, »sag mir: Geht es Max gut? Ist er immer noch … hier? Wie lange war ich weg? Hat irgendjemand – George und Sara – versucht anzugreifen?«
»Zwei Tage sind seit der Kutschfahrt vergangen. Niemand hat versucht anzugreifen«, antwortete Kritanu. Seine Miene war, wenn überhaupt möglich, noch ernster geworden, als sie Max erwähnte, und eine böse Vorahnung bemächtigte sich ihrer. »Max ist … immer noch derselbe.«
»Derselbe?« Victoria wurde ganz kalt. »Er ist immer noch bewusstlos? Seit zwei Tagen?« Sie wollte davonstürzen, aber der alte Mann packte ihren Arm.
»Nein, nein, er ist wach. Er ist aufgewacht. Ich wollte damit sagen, dass er immer noch da ist, wo er zurückgelassen worden ist.« Seine vorwurfsvolle Miene war nicht zu übersehen. »Genau wie du befohlen hast«, sagte er, und seine Stimme wurde mit jedem Wort härter. »Victoria, du bist zwar Illa Gardella … aber bitte mich nie wieder darum, so etwas zu tun.«
»Du hast ihn nicht herausgelassen.« Sie war sich nicht sicher, ob sie nun erleichtert oder entsetzt sein sollte, dass Max immer noch wohl behütet am selben Platz war, wo sie ihn zurückgelassen hatte.
»Ich hätte ihn heute herausgelassen, wenn du nicht zurückgekehrt wärst.« In seinem Blick lagen Sorge und Tadel. »Du hättest das nicht tun sollen.«
»Ich werde ihn jetzt herauslassen«, sagte sie und wandte sich ab. Es war gut gemeint gewesen von ihr, aber sie erwartete nicht, dass Kritanu das verstand. Er hatte nicht mit den Problemen zu kämpfen, mit denen sie konfrontiert wurde.
Trotz all der Eile, mit der sie sich zur stabilen Holztür begab, die von silbernen Kreuzen umrahmt und mit Weihwasser gesegnet war, stellte Victoria fest, dass sie wie gelähmt war, als es darum ging, den Balken anzuheben, der Max in dem Raum einsperrte. Was würde er sagen? Was würde sie sagen?
Sie holte tief Luft. Der schwere Holzbalken hatte sich in seiner Halterung leicht verkeilt: ein Indiz dafür, dass jemand versucht hatte, die Tür gewaltsam zu öffnen. Es knirschte, als sie den Balken fast mit Gewalt aus der Halterung löste. Automatisch trat sie einen Schritt zurück, denn irgendwie rechnete sie damit, dass Max herausgestürmt kommen würde.
Als jedoch nichts passierte, öffnete sie die Tür mit schweißfeuchten Händen.
Er saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Bett.
»Max.«
Beim Klang ihrer Stimme bewegte er sich. Mit der Anmut einer jungen Katze schwang er die Beine vom Bett herunter, setzte die Füße auf den Boden und stand auf. Dann kam er auf sie zu. Nicht besonders schnell, aber auch nicht lässig, sondern zielstrebig.
Victoria wappnete sich gegen das, was kommen würde – das Schimpfen, die Wut, die Vorwürfe.
Wortlos ging er an ihr vorbei in den Flur, ohne sie auch nur anzusehen oder etwas zu sagen.
»Max«, sagte sie wieder und drehte sich zu ihm um.
Er hielt keinen Moment lang inne, sondern ging einfach weiter den Flur entlang.
Fast hätte man den Eindruck bekommen können, er wäre blind oder taub, hätte da nicht dieser Ausdruck auf seinem Gesicht gelegen: finstere Wut.
Die Droschke blieb mit einem R uck stehen, und Victoria
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