Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
versuchte Victoria die Tür zu öffnen – denn sie wusste ja nicht, wer oder was sich auf der anderen Seite befand –, aber sie bewegte sich nicht. Sie wagte nicht, es mit Gewalt zu versuchen; unter Umständen befanden sich auf der anderen Seite mehr Vampire, als sie allein bezwingen konnte.
Davon abgesehen hatte sie einen anderen Plan.
Sie rannte zum Thron, weil sie Angst hatte, dass jemand zurückkommen könnte, bevor sie es geschafft hatte, sich zu verstecken. Schnell zog sie die Bolzen aus dem Boden, von denen er gehalten wurde, und schob ihn dann zur Seite, um die dahinter liegende Tür freizulegen. Eine Tür, von der Lilith bestimmt nichts wusste, denn sonst hätte sie sich ihren Kupferring zurückgeholt.
Victoria war sich nicht sicher, was sie hinter der Tür erwartete, aber sie hoffte, dass sie sich dort zumindest würde verstecken können, sodass der Eindruck entstand, sie wäre geflohen … und wenn sie Glück hatte, gab es ja auch einen anderen Weg nach draußen.
Während sie arbeitete, hallten Liliths höhnische Bemerkungen in ihrem Kopf wider … fast als versuchten sie, sie zu lähmen und abzulenken.
Sie spüren bereits den Sog der Gewissenlosigkeit. Die Saat alles Bösen beginnt im Ich. Wenn jemand sich über alles und jeden setzt, breitet das Böse sich aus.
Und Sie haben bereits Dinge getan … obwohl Sie wussten, dass es falsch war. Nicht wahr?
Während sie durch die Geheimtür stieg, musste Victoria unwillkürlich daran denken, wie sie Bemis Goodwin den Vampiren überlassen hatte – damit er sie nicht weiter verfolgte; dass sie Max betäubt hatte – damit sie sich keine Sorgen um seine Sicherheit mehr zu machen brauchte; wie die Wut in ihr hochgekocht war, als sie damals Gwendolyn besuchte, und diese ihr von ihren Plänen erzählte, die sie gar nicht hatte hören wollen.
Aber diese Vorfälle bedeuteten doch nicht, dass sie böse wurde. Oder doch?
Dass sie Bemis Goodwin und seine Handlanger dem sicheren Tod ausgeliefert hatte … vielleicht. Aber dass sie Max betäubt hatte, war doch nicht böse gewesen … wie könnte es böse sein, wenn man versuchte, jemanden zu schützen?
Auch wenn sie wusste, dass es ihn vernichten würde.
Denn so war es für sie leichter.
Sie verdrängte diese finsteren Gedanken und kauerte sich in die kleine Nische, während sie den von der Stelle gerückten Stuhl ansah. Sie musste ihn an die alte Stelle zurückschieben, sonst würde man ihr Versteck sofort entdecken. Dann fiel ihr Blick auf einen kleinen Stab neben der Tür. Er hatte einen Haken am Ende und ähnelte dadurch einem Hirtenstab. Im schmalen Strahl Licht, der aus dem Raum in die Nische fiel, erblickte sie außerdem ein kleines Stück Marmor. Es sah genauso aus wie der verzierte Bolzen, mit dem der Thron am Boden befestigt wurde. Nur dass da jetzt kein Bolzen war. Das Marmorstück würde also genau auf den Klauenfuß des Stuhles passen, sodass es so aussähe, als wäre er mit dem Bolzen befestigt, wenn sie ihn wieder an die alte Stelle rückte.
Offensichtlich war diese Tür mehr als einmal als Versteck benutzt worden, und Stab und Bolzenattrappe dienten als Hilfsmittel. Nachdem Victoria den falschen Bolzen an die entsprechende Stelle gesteckt hatte, zwängte sie sich wieder in die kleine Öffnung und benutzte den Metallstab, um den Stuhl an seine alte Position zurückzuziehen. Dabei schloss sich auch die Tür, bis sie nur noch einen schmalen Spalt weit offen stand. Der reichte gerade, um den Stab in die Nische zurückzuziehen.
Zufrieden mit dem Ergebnis, weil der Raum jetzt unverändert aussah, schloss sie die Tür und drehte sich um, um den stockfinsteren Raum zu erforschen. Sie tastete sich an der Wand entlang und musste dabei den Kopf einziehen, um ihn sich nicht zu stoßen – sie war bereits an den rauen Steinen über ihr entlanggeschabt. Schnell erkannte sie, dass es sich nicht einfach nur um eine Nische handelte, sondern dass es ein Gang war.
Einer der sie, wie sie anhand des kühlen Luftzuges schloss, in die Freiheit führen würde.
Kapitel 19
In welchem der Marquis Besuch bekommt
D er Gang war wirklich ihr Weg in die Freiheit, und Victoria gelangte aus dem Abwasserkanalsystem heraus, ohne dabei noch einmal auf Untote zu stoßen … bis auf einen, den (oder die; sie hatte keine Gelegenheit, das zu erkennen) sie überraschte, als sie im unterirdischen Kanal um eine Ecke bog. Sie pfählte den Vampir und ging gleich weiter, während ihr zu ihrer Bestürzung klar wurde, dass sie im Dunkeln
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