Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
Untoten verwandelt, wenn er erwacht. Dann hat das Vampirblut den ganzen Körper eingenommen und den Sterblichen in einen Unsterblichen verwandelt. Aber bei dir ist das nicht passiert. Du warst immer noch eine Sterbliche, als du erwacht bist. Als hätte man dich von dieser R egel ausgenommen. Aber trotzdem ist das Vampirblut immer noch in dir und kämpft darum, Besitz von dir zu ergreifen. Dadurch ist deine Situation eine andere, Victoria. Du bist wach und nimmst alles bewusst wahr. Der Kampf um deine Seele tobt in dir. Die beiden Amulette, die du trägst und die dir Kraft geben, haben dir mehr Zeit verschafft … Zeit, die du nun hast, um gegen das Verlangen anzukämpfen, unsterblich und böse zu werden. Sowohl körperlich als auch in Bezug auf deine Seele. Deinen Geist.«
Victoria erbebte. »Gibt es dann überhaupt eine Chance für mich? Wo dieses Böse in mir immer weiter wächst … gibt es eine Chance?«
Ehe Victoria sich versah, saß Wayren neben ihr auf der Bank. Sie umfasste ihre Schultern mit starken, schlanken Fingern und schaute ihr tief in die Augen. »Jeder Sterbliche trägt die Veranlagung zum Bösen tief in sich. Jeder Mann, jede Frau trifft Entscheidungen für sein oder ihr Ich, Victoria. Nur wenn diese Entscheidungen alles andere überwiegen; wenn sie zur treibenden Kraft werden, zum Normalzustand dieses Sterblichen, dann gewinnt das Böse. Wer nur an sich selbst denkt, öffnet der Bosheit Tür und Tor – doch sie kann nur gewinnen, wenn du es zulässt. Lass es nicht zu.« Sie schüttelte sie leicht, und der rote Nebel löste sich auf. »Ich glaube, du kannst dagegen ankämpfen und siegen … körperlich. Und geistig. Lass nicht zu, dass die Bosheit von dir Besitz ergreift, Victoria. Ich glaube, du kannst es aufhalten.«
* * *
Trotz ihrer vagen Andeutungen ließ nichts in Wayrens Verhalten darauf schließen, dass sie vorhatte, London zu verlassen. Sie erzählte Victoria sogar, dass sie die zwei Venatoren Brim und Michalas gebeten hatte, sofort nach London zu kommen. Diese befanden sich zurzeit in Paris, wo sie herauszufinden versuchten, warum es dort zu einer gesteigerten Dämonenaktivität gekommen war. Victoria kannte beide Männer gut und empfand die Entscheidung der weisen Frau keineswegs als Anmaßung, im Gegenteil; sie war erleichtert, dass Wayren es getan hatte. Das Eintreffen der Venatoren wurde innerhalb der nächsten sieben Tage erwartet, und sie würden in Anbetracht von Liliths Anwesenheit in London und etwaiger Pläne der Vampirkönigin eine Hilfe sein.
Obwohl Wayren immer eine eigene Unterkunft hatte, wenn sie in London war, blieb sie bis spät in den Abend bei Victoria, wo sie gemeinsam mit Kritanu speisten. Sie hatten gerade das Dinner beendet, als Sebastian angekündigt wurde, und trotz der Tatsache, dass Venatoren sich eigentlich selten um gesellschaftliche Umgangsformen kümmerten, empfingen Victoria und Wayren ihn im Salon.
Falls Wayren überrascht war, wie Sebastian Victoria begrüßte – mit einer Umarmung und einem langen Kuss auf ihren Handrücken –, so gab sie es nicht zu erkennen. Sogar als er sich neben Victoria auf das Sofa setzte, als wäre er ein verliebter Verehrer – was so gar nicht zu Sebastians Persönlichkeit passte und Victoria innerlich kichern ließ –, schien Wayren nichts zu bemerken.
»Ich habe mich gerade an etwas erinnert, von dem ich glaube, dass du es sehr interessant finden wirst«, meinte Sebastian zu Victoria.
Sie nippte an dem bernsteinfarbenen Sherry, den sie sich eingeschenkt hatte, und spürte zugleich die angenehme Wärme seines Schenkels, der sich kurz an sie drückte. »An was denn?«, fragte sie und schüttelte die trübe Stimmung ab, die seit Wayrens Ankunft auf ihr lastete. »Hast du eine neue Form erfunden, wie du dein Halstuch binden kannst?«
»Aber natürlich nicht«, meinte er leichthin; trotzdem schwang in seiner Stimme eine leise Gekränktheit mit. Das überraschte sie, und sie schaute ihm tiefer in die Augen. Ihr R ücken begann von oben bis unten zu kribbeln. Seit kurzem war er … feinfühliger? Ernster … und während Victoria geschickt dafür gesorgt hatte, dass ihre Küsse nur Küsse und die Schnüre ihres Korsetts geschlossen blieben, wusste sie doch, dass sich etwas ändern würde. Bald.
Sie hatte das Gefühl, als wäre die Entscheidung an diesem Nachmittag gefällt worden, als sie ihrer Mutter gegenüber die Verlobung bestätigt hatte.
Schließlich liebte er sie. Oder behauptete es zumindest … da war immer
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