Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
Anstand, verlegen zu wirken, was auch Victorias Absicht gewesen war.
Die meisten der ungefähr zwanzig Frauen, die den Salon von Grantworth House bevölkerten, waren keine engen Freunde von Victorias Mutter. Sie waren gekommen, weil sie unbedingt die Ersten sein wollten, die die berüchtigte Lady R ockley in Augenschein nahmen, welche – oh Graus – aus Liebe geheiratet hatte und deren Ehemann auf so tragische Weise bereits einen Monat nach der Hochzeit gestorben war. Und die man seither nicht mehr bei öffentlichen Auftritten gesehen hatte, selbst nachdem das Trauerjahr um war.
»Seltsam«, murmelte Lady Thurling, deren dünnhäutige, knochige Finger sich um den Knauf ihres Gehstockes schlossen, »das letzte Mal, als ich Lord R ockley sah, sagte er noch, er würde in vier Tagen zur Hochzeit meiner Enkeltochter kommen, um dann aber zwei Tage später« – sie hielt inne, um keuchend Atem zu holen – »ohne seine frisch angetraute Frau zu einer R eise aufzubrechen, von der er nie zurückgekehrt ist.« Sie musterte Victoria aus wässrig blauen Augen, die vor Befriedigung funkelten.
Sie hatte genau das ausgesprochen, was alle dachten.
Victoria setzte ein, wie sie hoffte, trauriges Lächeln auf. »Ja, wirklich, es war sehr tragisch. Er wurde abberufen und hatte kaum Zeit, sich richtig zu verabschieden, und ich … nun …«
»Wir nahmen damals an, dass die Umstände es Victoria nicht erlaubten, ihn zu begleiten«, fiel Lady Melly ihrer Tochter ins Wort.
Die anwesenden Damen gaben teilnahmsvolle Laute von sich, Augen wurden größer, einige rangen die Hände, andere tätschelten Victorias Handrücken, und es wurden sogar ein paar Nasenspitzen rot.
Nichts hätte der Wahrheit ferner liegen können, außer dass sich Lady Melly dieser grundlosen Hoffnung hingegeben hatte. Trotzdem war Victoria froh, dass die Unterhaltung dadurch eine andere Wendung genommen hatte. Sie warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr, die an Lady Thurlingtons Kleid steckte. Es war die einzige, die groß genug war, um sie von der anderen Seite des Tischchens aus erkennen zu können. Allerdings war sie umgekehrt angesteckt, sodass die ältere Dame nur nach unten zu schauen brauchte, um die Uhrzeit ganz leicht abzulesen.
Halb vier. Sie war erst seit einer Stunde hier.
Victoria ließ weitere zwanzig Minuten geschickter Befragungen und Beileidsbekundungen über sich ergehen, die süßer verbrämt waren als die Zuckertörtchen, ehe sich die Gelegenheit ergab, die Flucht zu ergreifen.
»Eine R unde durch den Park?«, hakte sie ein. »Aber ja, Mr. und Miss Needleton, das würde mir sehr gut gefallen.« Sie sprang auf, ehe ihre Mutter Einspruch erheben konnte.
Mr. und Miss Needleton – ein Geschwisterpaar – und deren Begleiterin, Miss Durfingdale, waren die einzigen nicht allzu neugierigen Besucher gewesen. Außerdem waren sie in etwa in Victorias Alter.
Als Lady Melly den Mund öffnete – bestimmt, um Einspruch zu erheben –, stürmte Victoria vor und umarmte sie, womit sie erfolgreich alles unterband, was ihre Mutter hatte sagen wollen. Ihr stieg der süße, aber trotzdem tröstliche Duft nach R osen in die Nase, den ihre Mutter immer auflegte, und flüsterte: »Ich habe gehört, Mr. Needleton hat mehr als vierzigtausend im Jahr.«
Lady Melly erstarrte in ihren Armen, und als Victoria sich wieder von ihr löste, sah sie, dass sich ein beinahe berechnender Blick in ihre Augen geschlichen hatte, während sie den unglückseligen Mr. Needleton musterte, dessen platt gedrückte Nase keinerlei Assoziation mit seinem Namen zuließ. Auch wenn Victoria durch ihren verstorbenen Ehemann und ihre Tante über ein eigenes stattliches Einkommen verfügte, war Lady Melly der Meinung, dass man nie genug Geld haben konnte. »Amüsier dich gut, Liebes.«
Als Victoria den Raum verließ, hörte sie sie noch sagen: »… bin ja so froh, wenn sie etwas mit jungen Leuten in ihrem Alter unternimmt. Sie ist schon viel zu lange …« Die Tür schloss sich hinter ihr und ihren Begleitern.
Victoria hätte es vorgezogen, ihr eigenes Karriol zu benutzen und neben der Kutsche der Needletons herzufahren, damit sie sich von ihnen hätte verabschieden können, sobald es die Höflichkeit erlaubte. Aber Miss Needleton ließ das nicht zu.
Sie war ein schmächtiges Persönchen mit flusigem Haar von undefinierbarem Braun und seelenvollen braunen Augen. Außerdem brachte sie ein Argument vor, das es Victoria unmöglich machte, ihren Wunsch nach Gesellschaft
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