Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
abzulehnen.
»Ich kannte R ockley, als er noch ein kleiner Junge war«, sagte Miss Needleton. »Wenn Sie sich neben mich setzen, könnte ich Ihnen ein paar Geschichten über ihn erzählen.«
Natürlich siegte die Neugier. Victoria stieg mit Mr. Needletons Hilfe in die Kutsche. Seine bleichen Wangen röteten sich vor Freude, als sich ihre behandschuhten Hände berührten. Sie lächelte ihn an und strich den R ock ihres Tageskleides glatt, damit er sich nicht mit dem seiner Schwester oder dem von Miss Durfingdale verhedderte. Dabei merkte sie, wie leicht es ihr fallen würde, in diese Welt zurückzukehren. Zu leicht möglicherweise.
Wenn es nach ihrer Mutter ginge, wäre Victoria bereits wieder damit beschäftigt, einen neuen Ehemann zu finden, um Lady Melly einen Enkel (und Erben der Grantworth-Besitzungen) zu schenken. Aber stattdessen wurde ihr ganzes Denken von der Frage beherrscht, welche Bedeutung der Kupferring wohl für Sebastian hatte und ob er plante, ihn den Venatoren zu übergeben oder ihn unter irgendeinem Vorwand zu behalten. Und wie sie Max ausfindig machen konnte, um ihm von Briyani zu erzählen. Und was George Starcasset mit Sarafina im Schlepptau hier in London trieb. Und was sie für Sebastian empfand.
Was sie wirklich für Sebastian empfand. Wärme stieg in ihr auf. Welche Gefühle sie auch für ihn hegen mochte … eines war klar: Allein der Gedanke an ihn erzeugte ein Kribbeln auf ihrer Haut und machte sie benommen – selbst, wenn er nicht anwesend war.
Victoria zuckte leicht zusammen, als sie merkte, wie fest ihre Hände ineinander verknotet waren und dass Mr. Needleton – ohne auf den R edestrom seiner Schwester R ücksicht zu nehmen – über die Vorzüge einer jungen Stute beim R ennen redete und ihr erschöpfend auseinandersetzte, warum er der Meinung war, dass sie den Sieg davontragen würde.
Alte Eichen und Pappeln säumten den Weg, als die Kutsche an stuckverzierten Villen vorbei auf die äußere Ringstraße des R egent’s Park abbog. Damals, als Victoria und Phillip hier entlanggefahren waren, hatte John Nash gerade erst mit der Neuplanung des Parks begonnen. Seine neuen Ideen waren längst noch nicht alle umgesetzt, doch die gewundenen Wege und die R uheplätze für Wasservögel zeigten bereits seinen Einfluss.
»Miss Needleton«, sagte Victoria schnell, als der R edeschwall des Bruders kurz stoppte, weil er Luft holen musste, »Sie sagten, Sie hätten meinen Mann gekannt, als er noch ein kleiner Junge war?«
»Ja, Mylady«, erwiderte sie. »Seine Mutter war eine Freundin meiner Mutter, und wir haben zwei Sommer miteinander verbracht, als ich sieben und er vielleicht dreizehn war. Er hatte eine erschreckende Vorliebe für Himbeeren, obwohl seine Mutter ihm verboten hatte, sie zu essen, weil er immer einen ganz fürchterlichen Hautausschlag von ihnen bekam. Ich erinnere mich noch, wie er mich eines Tages überredet hat, mit ihm Beeren pflücken zu gehen …«
Sie unterbrach ihre Geschichte, als sich ihnen von vorn eine andere Kutsche näherte. Natürlich hielten die Needletons an, um zu grüßen. Gwendolyn und ihr Earl, Brodebaugh, saßen in der anderen Kutsche. Seine ganze Aufmerksamkeit schien auf seine von ihm völlig verzückte Verlobte gerichtet zu sein, doch er war höflich genug, sich mit Victoria zu unterhalten, als sie das Wetter zur Sprache brachte. Es war das erste Mal, dass sie ihn bewusst wahrnahm, obwohl es laut Gwendolyn bereits im Sommer ihres Debüts ein Zusammentreffen mit ihm beim Musikabend der Straithwaites gegeben hatte. Sie tauschten ein paar höfliche Gemeinplätze aus. Als die Kutsche der Needletons gerade weiterfahren wollte, näherte sich ein anderes Fahrzeug, und der Aufenthalt zog sich noch weiter in die Länge. Victoria winkte Gwendolyn zum Abschied zu, als Brodebaugh weiterfuhr; tatsächlich bedauerte sie jetzt, sich nicht eigenmächtig dazu eingeladen zu haben, mit ihnen zurückzufahren. Es war nicht damit zu rechnen, dass sie sich den Needletons in absehbarer Zeit würde entziehen können.
Nachdem sich überall im Park herumgesprochen hatte, dass die Marquise von R ockley in der Kutsche der Needletons saß, schienen alle ihren Weg zu kreuzen.
Victorias Lippen verkrampften sich allmählich vom ständigen Lächeln und in ihre Handflächen hatten sich mittlerweile Löcher von ihren Nägeln gebohrt, weil sie die Hände die ganze Zeit zur Faust geballt hatte. Sie wollte gerade vorschlagen, dass sie nun doch wieder nach Grantworth House
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