Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
und es ist mir eine Ehre, mit Ihnen unter diesem Dach zu wohnen.«
Sein gesamtes Auftreten – die gedehnte Sprache, die Freude, die seine Miene ausstrahlte, der Schnitt seiner schlecht sitzenden Kleidung – unterschied sich so sehr von Phillip, dass Victoria eine Mischung aus Erleichterung und Bedauern verspürte. Und dann erst wurde ihr klar, was er gesagt hatte.
Offensichtlich war ihm die Bedeutung seiner Worte auch erst jetzt ins Bewusstsein gedrungen, denn seine gebräunten Wangen wurden einen Tick dunkler und seine Augen größer. »Oh, Verzeihung, Mrs. R ockley. Ich habe das nicht so gemeint. Ich wollte sagen« – er hatte angefangen zu lächeln und sie erwiderte es – »dass Sie jederzeit willkommen sind und so lange hierbleiben können, wie Sie wollen. Sie müssen nicht überstürzt ausziehen«, fügte er eilig hinzu. »Ich habe meine Sachen ins Gästezimmer bringen lassen.«
In dem Moment spürte Victoria, wie ihre Ängste sich in Luft auflösten. Nicht weil er ihr angeboten hatte zu bleiben, sondern weil dieser Mann so ganz anders war als Phillip … so weit entfernt von dem vornehmen, korrekten Mann, den sie geliebt hatte, dass es ihr plötzlich gar nicht mehr so schwierig und schmerzhaft schien, wenn er den Titel übernahm.
Er musste wohl ein sehr weit entfernter Verwandter der de Lacys sein, denn zumindest auf den ersten Blick konnte sie, was die äußere Erscheinung betraf, keinerlei Ähnlichkeit mit ihrem Ehemann erkennen. Phillip hatte walnussbraune Haare gehabt, während das störrische Haar dieses Mannes eher rehbraun war. In den Winkeln seiner braunen Augen waren tiefe Falten, was entweder darauf hinwies, dass er häufig lächelte oder häufig in die Sonne blinzelte. Da er tief gebräunt war, ging sie eher von Letzterem aus. James Lacy, der ab jetzt für alle und jeden in England nur noch R ockley sein würde, war vielleicht fünf Jahre jünger als Phillip, wenn dieser noch gelebt hätte. Victoria schätzte ihn auf ungefähr dreiundzwanzig.
Lady Melly wäre entsetzt gewesen, wenn sie hier gewesen wäre und seine Kleidung gesehen hätte. Er trug zwar Pantalons, ein Hemd und ein Jackett wie jeder andere englische Gentleman … doch man sah seiner Kleidung deutlich an, dass noch nie ein Schneider bei ihm Maß genommen hatte. Die Pantalons waren in den Knien und sogar darüber ausgebeult, und das Jackett war zu kurz für seine langen Arme.
Ihre Musterung war innerhalb eines Augenblicks abgeschlossen, dann machte Victoria einen höflichen Knicks vor ihm. »Lord R ockley, es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, und ich möchte Sie in St. Heath’s R ow willkommen heißen.«
»Danke, Mrs. R o ckley.« Dann wirkte er plötzlich beschämt und lächelte etwas verlegen. »Oder heißt es Mrs. Lacy? Ich hoffe doch, dass Sie mir bei all diesen Dingen helfen, die ich für den gesellschaftlichen Umgang brauche – die korrekte Benutzung von Titeln, gutes Benehmen und was es sonst noch alles gibt, was so überaus wichtig für dieses schwere Ding zu sein scheint. Ich bin erst vor drei Stunden von Bord gegangen.«
»Das schwere Ding?«, wiederholte Victoria, während sie einen Anflug von Panik zu unterdrücken versuchte. Das Letzte, was sie brauchen konnte, war eine weitere Aufgabe auf ihrer ohnehin schon langen Liste. Trotz des Charmes, mit dem er seine Selbstkritik äußerte, und seiner ungezwungenen Freundlichkeit verspürte sie kein Verlangen danach, ihm dabei zu helfen, seinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Das konnte er doch nicht wirklich von ihr erwarten. »Verzeihung, aber ich weiß nicht so recht, worauf Sie hinauswollen. Und die korrekte Anrede mir gegenüber wäre Lady R ockley oder Mylady. Sie wird man einfach R ockley nennen, da Sie jetzt den Titel Marquis von R ockley tragen.«
»In den Augen der Londoner Gesellschaft bin ich jetzt also nicht mehr James Lacy, der Mann aus Kentucky?« Seine Miene war leicht verwirrt, als könne er nicht ganz begreifen, dass er seine alte Identität verloren hatte. »Ich bin jetzt nur noch ein Titel?«
»Nur enge Freunde würden Sie James nennen«, erklärte Victoria. »Ihr Name wird sich ändern, sodass man Ihnen Ihren Titel und die Ländereien zuordnen kann, aber Sie werden immer noch Sie selbst sein – James Lacy, der Mann aus Kentucky … wer immer das auch sein mag.« Genau wie sie immer noch Victoria Gardella Grantworth de Lacy war – und trotzdem auch ein Venator, von Geburt an.
Er sah sie einen Moment lang an, so lange, dass
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