Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
einen Schal oder ein Umschlagtuch überflüssig zu machen. Der Mond war ein bisschen schmaler als am Abend zuvor, als Victoria Bemis Goodwin auf der leeren Straße gegenübergestanden hatte. Doch der Himmel war mit Sternen übersät, sodass es nicht gar so dunkel war.
James saß neben ihr in der Kutsche, hielt die Zügel und berührte jedes Mal ihren Arm, wenn er sich bewegte. Das offene, zweisitzige Gefährt rumpelte über die verlassenen Wege des R egent’s Park, wo unregelmäßig verteilte, ausladende Büsche und Gestrüpp für eine etwas unheimliche Stimmung sorgten. In der Luft hing schwach der Geruch von verbranntem Holz.
Victoria gelang es nicht, Max aus ihren Gedanken zu verdrängen. Sie holte tief Luft und schaute gehorsam nach oben, als ihr Begleiter sie auf ein besonders auffallendes Sternbild aufmerksam machte, aber ihre Gedanken wirbelten wie das Kielwasser eines fahrenden Bootes.
Er würde es nie begreifen … er würde ihr nie vergeben. Das wusste sie. Aber noch viel mehr als seinen Zorn hatte sie die Gefahren gefürchtet, denen er sich ausgesetzt hätte, wenn er ihr heute Abend gefolgt wäre. Es hatte sich gelohnt, die Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen, denn so musste sie sich keine Gedanken um seine Sicherheit machen.
»Aha, da sind sie ja«, rief James erfreut. »Da drüben!«
James’ Worte zwangen sie, sich von ihren unangenehmen Gedanken zu lösen und sich auf das zu konzentrieren, was gerade passierte. Sie war nicht ganz unvorbereitet auf diesen kleinen Ausflug mitgekommen. Als sie also angestrengt in der Dunkelheit zu dem munteren Gefährt hinüberschaute, in dem vermutlich Sara und George saßen, blickte sie in Wirklichkeit daran vorbei. Wenn alles lief wie geplant, dann warteten irgendwo da hinten im Dunkeln Sebastian und Kritanu, die von Barth mit der Kutsche hierher gebracht worden waren. Sie würden das Geschehen im Auge behalten, abwarten und erst dann eingreifen, wenn es irgendwelche Probleme gab.
Während Sara und George in ihrem Wagen näher kamen, bemerkte Victoria das verräterische Kältegefühl im Nacken, und sie verspürte so etwas wie Zufriedenheit, und Erwartung machte sich in ihr breit. Sie hatte also R echt gehabt, misstrauisch zu sein.
»Guten Abend, Lord R ockley … und Lady R ockley.« In Georges Stimme schwang leichte Erheiterung mit … wahrscheinlich weil die Namen eine Verbindung implizierten, die gar nicht vorhanden war.
Victoria sah, wie sich Schatten hinter der Kutsche der anderen bewegten. Das zuverlässige Gespür im Nacken sagte ihr, dass mehrere Untote in der Nähe waren. Sie spannte sich innerlich an, wobei sie darauf achtete, dass James nichts davon bemerkte. Wenn er ein Vampir war, der bei Tage umging, brauchte er das Elixier bei Nacht nicht zu trinken – außer er wollte nicht, dass sie erfuhr, zu welchen Geschöpfen er gehörte. Das klang logisch.
Genauso gut konnte es aber auch sein, dass sie beide als Opfer auserkoren waren.
Aber warum geschah nichts, jetzt, wo die anderen Vampire gekommen waren? Und sie unternahmen keinen Versuch, sich vor ihren Sinnen zu verbergen. Sara und George – und wer sonst noch – wussten doch bestimmt, dass sie spürte, wenn Vampire in der Nähe waren. Unbehagen stieg in ihr auf.
Genau in dem Moment kam eine dritte Kutsche in Sicht, die sich aus der Richtung näherte, aus der auch Sara und George gekommen waren. Victoria hörte ein vertrautes Lachen … das ihr einen entsetzlichen Schauer über den R ücken laufen ließ. Was machte Gwendolyn hier?
Das Ganze schien nach außen hin den Rahmen einer gesellschaftlichen Zusammenkunft zu haben, immer vorausgesetzt man ignorierte die Tatsache, dass ein paar der Anwesenden die schlechte Angewohnheit hatten, Blut zu trinken.
»Ich muss mich für unser Zuspätkommen entschuldigen, aber meine liebe Schwester und ihr Verlobter bestanden darauf, uns bei unserem nächtlichen Ausflug zu begleiten«, erklärte George, der seine Kutsche so ausrichtete, dass auch die dritte aufschließen konnte.
»Victoria!«, rief Gwendolyn lächelnd und rückte in ihrem Wagen nach vorn, um zu winken. Das Mondlicht brach sich in ihrem blonden Haar und hob die rundlichen Wangen hervor. »Ist das nicht herrlich? Eine Ausfahrt in den Park bei Nacht?«
»Es ist ganz wunderbar«, erwiderte Victoria, der es gelang, keine Beklommenheit in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen. Vor zwei Nächten hatte George seine Schwester noch nach Hause geschickt, in Sicherheit; warum hatte er ihr heute Abend
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