Das Buch der Vampire 05 - Sanfte Finsternis
vielleicht war es auch nur eine Halluzination. Sie wirkte seltsam diffus, und sie glühte. Vielleicht träumte er; aber zumindest war es kein Alptraum, in dem Giulia bettelte und flehte. Wenn es allerdings kein Alptraum war, so würde er doch die alten Träume vorziehen, in denen seine Geliebte ihr langes, dunkles Haar um ihn schlang und sie sich auf einem nächtlichen Bett wälzten, statt von einem Engel zu träumen.
Es schien irgendwie nicht richtig.
Das grässliche Schnarchen neben ihm sagte ihm, dass der andere Reisende, mit dem er das Zimmer teilte, noch immer tief und fest schlief. Die Sonne blitzte gerade am Horizont auf, und in ein paar Stunden würde er wieder beim Berg sein.
»Sebastian«, sagte eine Stimme, und er schaute in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Sie war immer noch da.
»Träume ich? Wayren?«
»Ich bin da. Ich bin hergekommen, um dir Glück zu wünschen und dir meinen Segen zu geben.«
Er nickte. Ob es nun ein Traum war oder nicht, er spürte, wie ihn Zufriedenheit durchströmte.
Wayrens Gegenwart hatte ihm früher immer Unbehagen bereitet, als er wusste, dass er seiner Berufung nicht folgte oder seine Pflicht tat. Jetzt war ihre Gegenwart — ob nun real oder doch nur ein Traum — wie eine Art Lob, Zuspruch und Segen.
»Außerdem bin ich hier, um dir das hier zu geben. Trage ihn und leg ihn nicht ab, dann wird er helfen.«
Etwas Silbernes blitzte im trüben Licht auf und fiel neben ihm aufs Bett. Ein schwerer Ring aus Silber, in den ein daumen-nagelgroßer Granat eingelegt war.
»Wofür ist der?«
»Er wird dir helfen, dein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und in Momenten der Schwäche Stärke zu bewahren. Mehr kann ich nicht tun. Alles andere liegt bei dir.«
Er nahm den Ring und steckte ihn auf den Mittelfinger seiner linken Hand. »Danke.« Dann sah er sie an. »Und danke für Rosamundes Papiere. Sie haben mich hierher geführt.«
»Ich wusste, dass sie das tun würden.« Sie nickte, und ihr blondes Haar bewegte sich dabei. Sie zögerte kurz, dann spürte er den Hauch einer Berührung auf seiner Hand. Immer noch wusste er nicht, ob das alles real war oder er es sich nur einbildete. »Du wirst es schaffen, Sebastian Vioget.«
Und dann wachte er auf.
Der silberne Ring steckte auf seinem Finger, die Sonne war gerade hinter dem Horizont hervorgekommen... und er war bereit, den letzten Tag seines Lebens anzutreten.
Zwei Stunden später stand Sebastian vor der Felsspalte, die in Liliths Unterschlupf führte.
Problemlos erhielt er Einlass, nachdem er ihren Wächtern die fünf Ringe gezeigt und seine Pflöcke abgegeben hatte. Sie versuchten nicht, ihm den Silberring abzunehmen, den Wayren ihm gegeben hatte und den er an der anderen Hand trug. Sebastian hatte nicht mehr als eine Stunde für dieses kleine Treffen veranschlagt, nachdem er zur Mittagszeit hier eingetroffen war.
Er wurde wieder in denselben Raum wie das letzte Mal geführt. Es war nur ein kurzer Weg durch einen gewundenen Gang aus Felsgestein.
Das Zimmer sah genauso aus wie beim letzten Mal, und er begrüßte Lilith mit ruhiger Stimme. Sie saß wieder auf ihrer Chaiselongue, trug diesmal aber ein schwarzes Kleid, welches ihre Haut fast schon blauweiß erscheinen ließ.
Zuerst sah Sebastian Pesaro nicht. Doch als er ihn erblickte, musste er seine ganze Kraft zusammennehmen, um keine Regung zu zeigen. Barmherziger Gott.
Wie lange war es jetzt her? Drei Tage? Noch nicht einmal drei Tage. Aber wie sah er aus.
Sebastian riss den Blick von dem Mann los und schwankte kurz, während er sein Entsetzen zu verbergen und wieder Haltung anzunehmen versuchte. Noch nie hatte er einen Mann, der so viel innere und äußere Kraft besaß, so erniedrigt, so verletzlich gesehen... diese Leere in seinem Blick, diese Hoffnungslosigkeit.
Würde er nach einem Tag auch so aussehen? Nach zwei Tagen? Sebastians Magen bäumte sich auf und drohte, seinen Inhalt von sich zu geben.
Rette mich.
Sebastian holte tief Luft. Er sah wieder in Liliths Richtung und achtete darauf, ihr nicht direkt in die Augen zu schauen, damit sie ihn nicht in ihren Bann ziehen konnte. Außerdem zwang er sich dazu, Pesaro zu ignorieren. Die Dinge würden sich für ihn ändern. Dafür würde er sorgen.
»Beauregards Enkel! Wie überaus freundlich, uns einen Besuch abzustatten.« Lilith richtete den machtvollen Blick ihrer blauroten Augen auf ihn, und obwohl er ihm auswich, spürte er seine Kraft... und Verlockung. Einen Moment lang musste er um Atem
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