Das Buch der Vampire 05 - Sanfte Finsternis
Strähne fiel ihr ins Gesicht, und sie strich sie ungeduldig zurück.
»Na, das ist jetzt die Victoria, die ich kenne«, meinte Sebastian munter, nachdem er sie dabei beobachtet hatte, wie sie sich zusammenriss.
Sie sah, dass sie am Anfang der Brücke angekommen waren. Große Statuen bewachten den Brückenturm.
»Was die Brücke betrifft«, fuhr er fort, während die Pferde das Kopfsteinpflaster betraten, »so gaben die Maurer Eier in den Mörtel, um die Stabilität zu erhöhen. Aus dem ganzen Land wurden Eier nach Praha geschickt, um die Handwerker dabei zu unterstützen. Und«, fugte er mit einem Lächeln hinzu, als ihre Pferde den Huf auf die Brücke setzten, »eine ganz besonders hilfsbereite Stadt meinte, es wäre schlau, die Eier zu kochen, ehe man sie losschickte, damit sie unterwegs nicht zerbrachen.«
Victoria sah vor sich und entlang der Brücke Lichter funkeln, doch die orangefarbenen Dächer und weißen Gebäude hatten im schwindenden Licht einen grauen Farbton angenommen. Sie drehte den Kopf, um Sebastian anzusehen. »Sie haben sie gekocht?«
»Ah, du hörst ja doch zu«, meinte er. »Ich dachte schon, deine Aufmerksamkeit verloren zu haben. Ja, in der Tat. Man hat mir erzählt, dass diese Eier für den Mörtel nicht mehr ganz so geeignet waren, aber von den Handwerkern gern als Zwischenmahlzeit genommen wurden.«
Sie lachte kurz auf und spürte im selben Moment das vertraute Kältegefühl im Nacken. Ein Vampir, vielleicht auch zwei.
Kraft durchströmte sie, als sie nach dem Pflock griff, der in ihrem Stiefel steckte. Kaum saß sie wieder aufrecht im Sattel, warf sie Sebastian einen Blick zu und sah, dass er sich auch bewaffnet hatte.
Ein schneller Rundumblick, und sie wusste, dass es sich bei dem Untoten um einen gutaussehenden jungen Mann neben einer der Statuen handelte. Er saß auf einem großen Pferd und lächelte eine Frau an, die einen schweren Korb an breiten Lederriemen auf dem Rücken trug. Sie war deutlich älter als Victoria und wirkte im trüben Schein der Laterne ausgezehrt und müde.
Sie würde es mit einem übermenschlich starken Untoten nicht aufnehmen können, doch der würde, wenn er vor die Wahl gestellt wurde, wahrscheinlich frisches, jüngeres Blut vorziehen.
Wie das von Victoria.
Sie warf Sebastian einen viel sagenden Blick zu, zog das Band aus ihrem Haar und zog die Kanten ihres Umhangs nach vorn, um ihre Hosen zu verbergen. Dann trieb sie ihr Pferd an und ritt ganz dicht an dem Vampir und dem von ihm ins Auge gefassten Opfer vorbei.
»Pardon, Monsieur«, sagte sie auf Französisch, der Sprache, mit der man sich in gehobenen Kreisen auf dem ganzen Kontinent verständigen konnte, und schaute den Vampir an. Als dieser seinen Blick von der älteren Frau abwandte, sah sie das Interesse in seinen Augen aufblitzen. Eine Frau, die genau neben ihm anhielt und sich an ihn wandte, als benötige sie Hilfe... Da sie ihn auf Französisch angesprochen hatte, wusste er, dass sie fremd in der Gegend war, und Sebastian hielt sich weit genug entfernt, damit man nicht merkte, dass sie zusammen reisten.
Der Vampir, der genauso wankelmütig war, wie sie ihn eingeschätzt hatte, lenkte sein Pferd von der älteren Frau weg zu der attraktiveren Beute hin. Sie sah an ihm vorbei und beobachtete, wie Sebastian zu der anderen Frau ritt, aus dem Sattel stieg und dafür sorgte, dass sie sicher nach Hause kam.
»Darf ich Ihnen helfen?«, fragte er in etwas holprigem Französisch.
»Oh ja, bitte«, stammelte Victoria. »Irgendwie scheine ich mich verirrt zu haben, und ich hatte gehofft, dass Sie mir vielleicht helfen könnten, ein Gasthaus zu finden, wo ich übernachten kann.«
Sie fand eigentlich, dass jeder Vampir, der auch nur über ein
Fünkchen Verstand verfügte, sich fragen sollte, wie ihm so eine reife Pflaume einfach so in den Schoss fallen konnte... aber bei diesem Untoten hier schien sich gar kein Misstrauen ob des Glücks zu regen, das ihm da widerfuhr. Seine Augen leuchteten sogar vor ruchloser Freude, und er schien gar nicht zu bemerken, dass sein anderes Opfer wegzugehen begann.
»Aber natürlich«, erwiderte er. »Lassen Sie uns über die Brücke zum Altstädter Ring reiten. Dort gibt es viele Unterkünfte, die man mieten kann.«
Und viele dunkle Ecken, in die man ein Opfer ziehen kann, um es völlig auszusaugen.
»Oh, danke«, sagte Victoria, die es viel schöner gefunden hätte, wäre es möglich gewesen, ihm an Ort und Stelle den Pflock ins Herz zu rammen. Aber es würde
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