Das Buch der Vampire 05 - Sanfte Finsternis
unterdrücken. Aber zumindest half der Zusammenstoß, die nächtlichen Spinnweben aus seinem Kopf zu vertreiben.
Victoria sah ihn neugierig an, war aber schlau genug, nichts zu sagen. Die drei hatten so etwas wie eine morgendliche Routine entwickelt. Max und Sebastian zogen sich schnell an und gingen dann hinaus, um die Pferde zu satteln und ein Frühstück zu beschaffen, während Victoria sich sorgfältig zurechtmachte.
Denn seit sie den Kanal überquert hatten, kleidete Victoria sich wie ein Mann, weil sie im Männersattel ritt und den Raum mit zwei Männern teilte.
Und sie hatte ihre Haare abgeschnitten.
Oder eher... Max hatte ihr die Haare abgeschnitten.
Sie hatten sich gleich am ersten Morgen in der Normandie darüber gestritten.
»Du musst dein Haar besser verbergen, wenn du willst, dass die Leute dich für einen Mann halten«, hatte Max zu ihr gesagt. Hose, Hemd und Jacke waren zwar gut, aber auf den Körperbau eines Mannes zugeschnitten, nicht auf die Rundungen einer Frau.
»Dann schneide es ab«, erwiderte Victoria, hob den schweren Zopf und ließ ihn auf ihre Schulter fallen. »Du hast schon mal gesagt, dass ich es tun soll.«
»Aber nein, so weit musst du doch nicht gehen. Steck sie einfach unter deine Mütze oder in deine Jacke«, meinte Vioget von der anderen Seite des Raumes. »Es wäre eine Schande, so schöne Locken abzuschneiden. Die reichen doch, wenn du dein Haar offen trägst, fast bis zur...«
»Taille. Wie ungehobelt, das zu erwähnen«, unterbrach Max ihn. Ihre Blicke kreuzten sich, und die gegenseitige Abneigung hing fast greifbar in der Luft.
»Ich mach es selber«, zischte Victoria, packte ihren Zopf, sodass er sich spannte, und griff nach dem Messer, das sie an der Hüfte trug. Die Klinge blitzte in der frühmorgendlichen Dämmerung. »Verdammte Narren.«
»Nein, warte«, rief Max und packte ihr Handgelenk. Er zögerte... doch am Ende musste es doch getan werden. »Lass mich das machen. Du schneidest dich nur.«
Was für ein fadenscheiniger Vorwand! Doch sie ließ den Arm sinken und sich das Messer von ihm aus der Hand nehmen. Er legte eine Hand an ihren Hinterkopf, und ehe er noch einmal darüber nachdenken konnte, um es sich anders zu überlegen, schnitt er den langen, dicken Zopf direkt am Nacken ab.
Der Zopf lag schwer in seiner Hand, während er beobachtete, wie die dunklen Locken sich um die weiche Haut von Schultern und Hals ringelten. Sie reckte sich und schüttelte den Kopf, als wäre sie von einer großen Last befreit worden, und lächelte ihn an. »Ich fühle mich so leicht.«
»Ein bisschen sicherer ist es so auch«, meinte er, während er den Blick nicht von Victoria abwenden konnte, die mit den weichen, zerzausten Haaren, die ihr in die Augen und ins Gesicht fielen, aussah, als wäre sie gerade aus dem Bett gestiegen.
»Und sehr, sehr süß«, warf Vioget ein. »Überhaupt nicht jungenhaft.«
»Und wofür war das Ganze dann?«, lachte Victoria.
Nicht allzu sanft fasste Max das, was von ihrem Haar übrig geblieben war, zu einem tiefen Zopf zusammen. Dann band er ihn mit dem Lederstreifen zusammen, den er sonst für sein eigenes Haar benutzte. »Setz einen Hut auf, und du siehst wie ein junger Mann aus.«
»Ein sehr hübscher junger Mann«, stimmte Vioget ihm zu, der immer das letzte Wort haben zu wollen schien.
Jetzt, nach einer mehr als einwöchigen, schnellen Reise tauchte Prag vor ihnen auf. Die orangeroten Dächer der eng zusammenstehenden Gebäude, zwischen denen der schwarze Turm des noch nicht fertig gestellten Veitsdoms aufragte, leuchteten hell in der untergehenden Augustsonne. Jenseits der funkelnden Moldau konnte Max ganz schwach den Doppelturm der Teynkirche ausmachen.
»Ich nehme an, Sie wissen, wo wir Katerina finden«, sagte er, sich zu Vioget umdrehend.
»Ganz gewiss.«
Max nickte und nahm die Zügel wieder auf. »Das überlasse ich dann euch beiden. Wir treffen uns übermorgen Abend in der Teynkirche.« Er hatte heute Morgen bereits mit dem Fasten begonnen und würde, noch bevor die Sonne ganz untergegangen war, auf den Knien in der Kirche hocken. Für den ersten Fastentag wäre das laut Wayren ausreichend.
Vioget sah aus, als ob er noch etwas sagen wollte, aber dieses eine Mal hielt er sich dann doch zurück. Max sah Victoria an, ohne seinen Blick jedoch verweilen zu lassen. »Pass auf dich auf« war alles, was er zum Abschied sagte.
Jedes einzelne Wort, das sie darauf erwidert haben mochte, ging im lauten Hufgetrappel seines Pferdes
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