Das Buch der Verdammnis (German Edition)
Aber November hatte etwas, das mich mehr und mehr beunruhigte. Eine ganz eigene Ausstrahlung. Als hätte jemand seit seiner Anwesenheit die Temperatur um einige Grad gesenkt. Die Farben der Bilder an den Wänden, grellbunte Zeichnungen von einem Kinderkurs, hatten auf einmal ihre Kraft verloren und wirkten grau und seelenlos.
Auch Blum war irritiert von dem Kursneuling. Doch er hakte sofort nach.
„Worum geht es denn in Ihrer Geschichte?“, fragte er lauernd. „Wollen Sie uns nicht etwas darüber erzählen?“
Aus seinen Worten hörte man den Ärger darüber heraus, dass November ihn fantasielos genannt hatte. November sah zu mir.
„Ich will mich hier nicht vordrängen. Wir brennen ja alle darauf zu hören, wie die sexuelle Begegnung eines Mannes mit einem weiblichen Wurm aussehen soll.“
„ Ist schon in Ordnung“, sagte Polonski. „Ich bin jetzt auch neugierig, was du so schreibst.“
„ Ich erzähle gerne etwas, wenn unser geschätzter Kursleiter nichts dagegen hat.“
„ Bitte“, sagte ich.
Er lächelte, ließ sich Zeit. Durch die Wände konnte man wieder Gelächter aus dem Kurs im Nebenzimmer hören. Es wollte gar nicht aufhören.
„Es ist eine Liebesgeschichte“, sagte November. „Eine Geschichte zwischen einem Mann und einer Frau.“
„ Das ist doch mal etwas Neues“, sagte Blum mit einem spöttischen Lächeln.
„ Ich verstehe durchaus Ihre ironische Anmerkung, doch so einfach ist die Geschichte nicht, denn die Frau in meiner Geschichte ist nur ein Fantasieprodukt, eine Schimäre, eine Fata Morgana, ein Produkt der überhitzten Fantasie meines Helden.“
„ Ein uralter Mythos“, unterbrach ihn Blum. „Die Geschichte Pygmalion. Der Künstler, der sich unsterblich in sein Werk verliebt. Ich sage es immer wieder, es gibt keine Geschichte, die nicht schon erzählt wurde.“
„ Natürlich habe ich auch Vorbilder“, sagte November. „Jeder große Autor kann sich auf eine lange Ahnenreihe von Schriftstellern stützen, die er verehrt und liebt. Ich denke aber, dass meine Geschichte neu ist und anders. Ja, es geht um einen Künstler, der sich in sein Werk verliebt. In die Frau, die seine Fantasie erschaffen hat. Doch dieser Künstler wird schuldig. Denn aus kleinlichen Schwächen, aus Eifersucht, verwehrt er die Frau dem, dem sie bestimmt ist. Er greift in die Geschichte ein. Er ändert die vorgeschriebene heilige Ordnung der Fantasie und weiß nicht, was er damit anrichtet. Denn er stürzt eine Welt ins Chaos. Er weckt die Geister des Bösen.“
Er machte eine Pause und sah in die Runde. In seinem Blick war etwas Triumphierendes.
Mein Herz pochte. Was erzählte dieser November da? Ich musste an den Schluss der letzten Hank-Lester-Folge denken. Spielte November darauf an? Aber wie konnte er davon wissen?
Polonskis Augen leuchteten, als er die Geschichte hörte.
„Die Geister des Bösen, das sind doch irgendwelche Monster, menschenfressende Monster?“, fragte er.
November lächelte fein. Dann nickte er.
„Oh ja. Sie sind furchtbar. Mutanten, die in der Nacht zu grässlichen Kreaturen werden.“
„ Und wie geht es dann weiter?“, fragte Polonski.
November hatte immer noch dieses unergründliche Lächeln im Gesicht.
„Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Die Geschichte ist eben im Entstehen. Ich hoffte auch auf Anregungen aus diesem Kreis. Ich muss zugeben, dass ich an einer Stelle der Geschichte bin, wo ich eine gewisse Lähmung verspüre.“
Er blickte in die Runde, niemand sagte etwas. Vom anderen Raum hörte ich wieder ein lautes Lachen, dann Geräusche, wie wenn Stühle zur Seite geschoben wurden. Meike machte ihre Pause. Ich blickte auf die Uhr.
„Nun, ich denke, wir machen erstmal eine Pause“, sagte ich. „Vielleicht fallen uns ja danach noch einige Ideen ein.“
In der Pause meines Kurses traf ich mich meist mit meiner Kollegin Meike von Hardenberg in ihrem Kursraum. Der wichtigste Grund dafür war, dass es in ihrem Kurs immer etwas zu essen gab.
Meike war Anfang dreißig und schrieb wie ich Heftreihen für den Kostar-Verlag. Herzzerreißende Liebesgeschichten, die in Adelshäusern oder Arztpraxen spielten. Außerdem hatte sie einige von der Kritik gelobte Romane geschrieben und so hatte man ihr angeboten, einen Kreativschreibkurs zu machen.
Als ich in ihren Kursraum kam, saß sie an ihrem Dozententisch und hatte vor sich einen Kaffee stehen und einen Teller mit einer Nusstorte. Sie trug ein weißes Kleid, das irgendwie aufgeblasen wirkte, als trüge
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