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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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Tropfen. Rolands Gesicht war hager und grau, die Wangen hohl, und der Schädel zeichnete sich deutlich unter der Haut ab. Neben Roland hing noch ein zweiter Mann, ebenfalls mit dem Sonnenabzeichen auf dem Brustpanzer – Raphael. Also hatte Roland schließlich die Wahrheit über das Verschwinden seines Freundes erfahren.
    Und sie waren nicht allein. Überall in dem Kuppelsaal hingen die Überreste von Männern, wie ausgesaugte Fliegen in einem Dornennetz. Einige mussten schon sehr lange dort sein, denn ihre Rüstungen waren vollkommen verrostet, und außer Skeletten war nichts mehr von ihnen übrig.
    David verspürte einen solchen Zorn, dass alle Furcht und sämtliche Fluchtgedanken sich in Nichts auflösten. In diesem Augenblick begann seine Wandlung vom Jungen zum Mann. Langsam ging er auf die schlafende Frau zu, wobei er sich immer wieder um sich selbst drehte, damit sich nichts und niemand unbemerkt heranschleichen konnte. Er erinnerte sich an die Warnung seiner Mutter, er solle nicht nach rechts und links schauen, aber der Anblick von Roland, der aufgespießt an der Wand hing, weckte in ihm den brennenden Wunsch, der Zauberin gegenüberzutreten und sie für das, was sie seinem Freund angetan hatte, zu töten.
    »Komm heraus«, brüllte er. »Los, zeig dich!«
    Doch nichts rührte sich in dem Saal, und niemand antwortete auf seine Herausforderung. Das Einzige, was er hörte oder zu hören glaubte, war die Stimme seiner Mutter, die leise seinen Namen rief. »David.«
    »Ich bin hier, Mama«, antwortete er.
    Jetzt war er bei dem steinernen Altar angekommen. Fünf Stufen führten zu der schlafenden Frau. Vorsichtig ging er hinauf, immer noch auf der Hut vor der unsichtbaren Bedrohung, dem Wesen, das Roland und Raphael und all die anderen Männer, die aufgespießt und hohl an den Wänden hingen, getötet hatte. Als er schließlich oben war, sah er hinunter auf das Gesicht der schlafenden Frau. Es war seine Mutter. Sie war sehr blass, aber auf ihren Wangen lag ein rosiger Hauch, und ihre Lippen waren prall und feucht. Ihr rotes Haar glühte wie Feuer auf dem Grau des Steins.
    »Küss mich«, hörte David sie sagen, obwohl ihr Mund sich nicht bewegte. »Küss mich, und wir werden wieder vereint sein.«
    David legte sein Schwert neben ihr ab und beugte sich vor, um ihre Wange zu küssen. Seine Lippen berührten ihre Haut. Sie war sehr kalt, sogar noch kälter als damals, als sie aufgebahrt in ihrem Sarg gelegen hatte, so kalt, dass die Berührung ihm wehtat. Sie betäubte seine Lippen und lähmte seine Zunge, und sein Atem verwandelte sich in lauter Eiskristalle, die wie winzige Diamanten in der unbewegten Luft funkelten. Als er sich von ihr löste, hörte er erneut, wie jemand seinen Namen rief, aber diesmal war es die Stimme eines Mannes.
    »David!«
    Suchend blickte er sich um. Oben an der Wand bemerkte er eine Bewegung. Es war Roland. Er winkte schwach mit der linken Hand, dann umfasste er den Dorn, der aus seiner Brust herausragte, als müsse er sich daran festhalten. Sein Kopf bewegte sich, und mit letzter Kraft stieß er die Worte hervor.
    »David«, ächzte er. »Sei vorsichtig!«
    Mühsam hob Roland die rechte Hand und deutete auf die Frau auf dem Altar. Dann erschlaffte er, und das Leben entwich endgültig aus seinem Körper.
    David sah hinunter auf die schlafende Frau, und plötzlich öffneten sich ihre Augen. Doch es waren nicht die Augen seiner Mutter. Die waren grün und freundlich und voller Liebe. Diese Augen hingegen waren schwarz, ohne einen Hauch von Farbe, wie Kohlenstücke im Schnee. Auch das Gesicht der schlafenden Frau hatte sich verändert. Sie war nicht mehr Davids Mutter, sondern Rose, die Geliebte seines Vaters. Ihr Haar war schwarz, nicht rot, und es umfloss ihr Gesicht wie flüssig gewordene Nacht. Ihre Lippen öffneten sich, und David sah ihre Zähne, sehr weiß und sehr spitz, die Eckzähne länger als alle anderen. Er wich einen Schritt zurück und wäre beinahe die Stufen hinuntergefallen, als die Frau sich auf ihrem steinernen Bett aufrichtete. Sie räkelte sich wie eine Katze, dehnte den Rücken und spannte die Arme an. Der Schal um ihre Schultern glitt herunter und entblößte den alabastergleichen Hals und den Ansatz ihrer Brüste, auf dem zu Eis erstarrte Blutstropfen lagen wie eine Kette aus Rubinen. Die Frau drehte sich herum, sodass ihr Kleid über den Rand des Altars herunterhing. Ihre tiefen schwarzen Augen betrachteten David, und sie fuhr sich mit der blassen Zunge über die

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