Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
Vom Netzwerk:
Es wird Zeit, dass wir wieder beieinander sind. Aber sei vorsichtig. Sie ist wachsam, und sie wartet auf dich. Wenn du mich siehst, dann schau nicht nach rechts und nicht nach links, sondern nur auf mein Gesicht. Dann wird alles gut.«
    Das Spiegelbild löste sich auf, und die Gestalten verschwanden aus dem Garten. Ein kalter Wind erhob sich und wirbelte den Staub im Zimmer auf, bis nichts mehr zu erkennen war. David bekam keine Luft mehr, und seine Augen begannen zu tränen. Hustend und spuckend stolperte er hinaus in den Flur.
    Plötzlich knallte hinter ihm eine Tür zu, und man hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Er fuhr herum, und eine zweite Tür fiel krachend zu, dann eine dritte. Die Türen zu allen Räumen, an denen er vorbeigegangen war, wurden fest verschlossen. Jetzt schlug die Tür zu seinem Zimmer vor seiner Nase zu, und so ging es weiter, den ganzen Flur entlang. Nur die Fackeln an der Wand gaben ihm noch Licht, und dann begannen auch sie zu erlöschen, angefangen mit denen, die der Treppe am nächsten waren. Dort hinten herrschte bereits absolute Dunkelheit, und sie näherte sich rasch. Bald würde der ganze Flur in schwarze Finsternis gehüllt sein.
    David rannte los, versuchte, vor dem nahenden Schatten zu fliehen, die Ohren erfüllt vom Knallen der Türen und dem Geräusch seiner Schritte, aber das Licht verlosch schneller, als er laufen konnte. Er sah, wie die Fackeln direkt hinter ihm erloschen, dann die an seiner Seite und schließlich die vor ihm. Er lief weiter, in der verzweifelten Hoffnung, dass er sie irgendwie einholen konnte. Doch dann erlosch die letzte Fackel, und er befand sich in völliger Dunkelheit.
    »Nein!«, brüllte David. »Mama! Roland! Ich sehe nichts mehr. Helft mir!«
    Doch niemand antwortete. David stand reglos da, unsicher, was er tun sollte. Was vor ihm lag, wusste er nicht, aber er wusste, dass hinter ihm die Treppe war. Wenn er kehrtmachte und sich an der Wand entlangtastete, würde er dorthin zurückfinden, aber damit würde er seine Mutter im Stich lassen, und Roland auch, falls er noch lebte. Wenn er sich hingegen nach vorn bewegte, würde er blindlings ins Unbekannte stolpern, eine leichte Beute für diese »sie«, von der die Stimme seiner Mutter gesprochen hatte, die Zauberin, die diese Burg mit Dornen und Ranken bewehrte und Männer enthauptete, ihre Körper in leere Hüllen verwandelte und die Köpfe an den Zinnen aufspießte.
    Da erblickte David in der Ferne ein winziges Licht, wie ein Glühwürmchen in der Dunkelheit, und die Stimme seiner Mutter sagte: »David, hab keine Angst. Du hast es fast geschafft. Gib jetzt nicht auf.«
    Gehorsam ging er weiter, das Licht wurde größer und heller, und schließlich sah er, dass es von einer Lampe kam, die hoch oben über seinem Kopf hing. Nach und nach wurde der Umriss eines Torbogens sichtbar. Vorsichtig bewegte er sich darauf zu. Es war der Eingang zu einem riesigen Saal, dessen Kuppeldecke von vier mächtigen steinernen Pfeilern getragen wurde. Die Wände und Pfeiler waren von Dornenranken überwuchert, noch viel dichter als die außen an den Mauern und am Tor der Festung, und mit so gewaltigen Dornen, dass David sich daneben wie ein Zwerg vorkam. In den Rundbögen zwischen den Pfeilern hing jeweils eine Lampe in einem kunstvoll geschmiedeten Gehäuse, und ihr Licht fiel auf Truhen voller Münzen und Juwelen, auf Trinkbecher und Bilderrahmen, Schwerter und Schilde, alle schimmernd von Gold und Edelsteinen. Es war ein prachtvoller Schatz, größer als die meisten Menschen sich überhaupt vorstellen konnten, und doch beachtete David ihn kaum. Sein Blick war auf einen erhöhten steinernen Altar in der Mitte des Raumes geheftet, auf dem eine Frau lag, reglos wie eine Tote. Sie trug ein rotes Samtkleid, und ihre Hände waren über der Brust gefaltet. Als David genauer hinschaute, sah er, wie ihre Brust sich sanft hob und senkte. Dies war also die schlafende Frau, die die Zauberin mit ihrem Fluch gebannt hatte.
    Als David den Saal betrat, ließ der flackernde Schein der Lampen etwas hoch oben an der mit Dornen übersäten Wand zu seiner Rechten aufleuchten. Er wandte sich zur Seite, und was er dort sah, fuhr ihm wie eine glühende Schwertklinge in den Magen.
    Auf einem der riesigen Dornen drei Meter über dem Boden war Roland aufgespießt. Die Spitze hatte seine Brust durchstoßen und ragte aus dem Panzer heraus, dort, wo das Symbol der zwei Sonnen gewesen war. An seiner Rüstung war Blut, aber nur ein paar

Weitere Kostenlose Bücher