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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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Blut zu sehen. David wusste zwar nicht viel über das Köpfen eines Menschen, aber er nahm an, dass dabei viel Blut floss. Er fragte sich, wer der Ritter war, und ob er, so wie Roland, ein Abzeichen auf dem Brustpanzer trug, an dem man ihn erkennen konnte. Der massige Körper lag auf dem Bauch, und David wusste nicht, ob es ihm gelingen würde, ihn umzudrehen, aber er beschloss, es wenigstens zu versuchen, für den Fall, dass er eine Gelegenheit fand, jemandem zu berichten, was dem Ritter zugestoßen war.
    David ging in die Knie, holte tief Luft und drückte mit aller Kraft gegen die Rüstung. Zu seinem Erstaunen ließen sich die Überreste des Ritters vergleichsweise leicht bewegen. Die Rüstung hatte durchaus ihr Gewicht, aber sie war nicht so schwer, wie sie mit einem toten Mann darin hätte sein müssen. Als er den Ritter umgedreht hatte, konnte David das Abzeichen eines Adlers auf dem Brustpanzer erkennen, in dessen Krallen sich eine Schlange wand. Vorsichtig klopfte er mit dem Finger gegen die Rüstung. Es klang hohl. Offenbar war die Rüstung leer.
    Doch nein, das stimmte nicht, denn beim Herumdrehen hatte David gehört und gespürt, wie sich etwas bewegte, und als er in die Halsöffnung schaute, wo der Kopf abgetrennt worden war, erblickte er den weißen Knochen der Wirbelsäule und Haut, aber selbst hier war keine Spur von Blut zu sehen. Irgendwie waren die Überreste des Ritters zu einer leeren Hülle geschrumpft, und das so schnell, dass die Blume, die er getragen hatte – vielleicht als Glücksbringer –, noch keine Zeit gehabt hatte zu welken.
    David überlegte, ob er fliehen sollte, doch er wusste, selbst wenn er es versuchte, würden die Dornen ihm den Weg versperren. Dies war ein Ort, den man zwar betreten konnte, aber nicht wieder verlassen. Außerdem hatte er trotz aller Zweifel erneut die Stimme seiner Mutter gehört, die ihn rief, und wenn sie wirklich hier war, durfte er sie nicht im Stich lassen.
    David stieg über den gefallenen Ritter hinweg und betrat den Turm. Eine steinerne Treppe wand sich spiralförmig nach oben. Er lauschte angestrengt, hörte aber nicht das leiseste Geräusch. Er hätte gern nach seiner Mutter gerufen, oder nach Roland, aber er wollte nicht, dass das Wesen, das offenbar im Turm lauerte, auf ihn aufmerksam wurde. Obwohl es gut möglich war, dass dieses Turmwesen bereits wusste, dass er sich in der Festung befand, vielleicht sogar dafür gesorgt hatte, dass die Dornen ihn passieren ließen. Dennoch schien es klüger, sich leise zu verhalten, und so hielt er den Mund. Er erinnerte sich an die Gestalt, die vor dem erleuchteten Fenster auf und ab gegangen war, und an die Geschichte von der Zauberin, die eine Frau gefangen hielt und sie zu einem ewigen, alterslosen Schlaf in einer Schatzkammer verdammt hatte, der nur durch einen Kuss beendet werden konnte. War diese Frau womöglich seine Mutter? Die Antwort war dort oben zu finden.
    Mit gezücktem Schwert begann er die Treppe zu erklimmen. Alle zehn Stufen war eine kleine, schmale Öffnung in die Mauer eingelassen, durch die ein wenig Licht hereinfiel, sodass David zumindest sehen konnte, wohin er trat. Er zählte ein Dutzend solcher Fenster, bevor er oben ankam. Vor ihm erstreckte sich ein Flur mit lauter offenen Türen zu beiden Seiten. Von außen schien der Turm sechs bis acht Meter breit zu sein, aber der Flur war so lang, dass das Ende sich im Dunkel verlor. Er musste mindestens hundert Meter lang sein, erleuchtet von brennenden Fackeln, die in Wandhaltern steckten, und dennoch befand er sich in einem Turm, der nur einen Bruchteil dieser Größe aufwies.
    Langsam ging David den Flur entlang, wobei er in jeden Raum hineinspähte. Einige von ihnen waren Schlafzimmer, opulent ausgestattet mit riesigen Betten und Samtvorhängen. Andere waren mit Sofas und Sesseln möbliert. In einem stand nur ein großer Konzertflügel. Ein anderes war mit zahllosen Versionen eines einzigen Gemäldes dekoriert: ein Bild von zwei kleinen Jungen, eineiigen Zwillingen, hinter denen ein Bild hing, auf dem wiederum die beiden Jungen zu sehen waren, und immer so weiter, sodass sie auf endlose Abbilder ihrer selbst schauten.
    Ungefähr auf halbem Weg befand sich ein riesiger Speisesaal mit einem langen Eichenholztisch, an dem einhundert Stühle aufgereiht waren. In regelmäßigen Abständen waren Kerzen aufgestellt, und ihr Licht beschien ein üppiges Festmahl. Es gab gebratene Truthähne und Gänse und Enten, und in der Mitte prangte ein ganzes

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