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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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aufplatzte, und ein Fuß trat gegen seinen Kopf. Dann herrschte Stille.
    David rollte unter dem roten Samt hervor. Die Dornen hatten sich der Frau ins Herz und in die Seite gebohrt. Auch ihre rechte Hand hing in den Dornen, aber die linke war unversehrt. Zitternd hing sie vor einer Ranke, der einzige Teil von ihr, der sich bewegte. David konnte ihr Gesicht sehen. Jetzt sah sie nicht mehr aus wie Rose. Ihr Haar war weiß geworden und ihre Haut alt und verknittert. Ihre Wunden verströmten einen modrigen, fauligen Geruch. Der Unterkiefer hing ihr auf die faltige Brust. Ihre Nasenflügel bebten, als sie David roch, und sie versuchte zu sprechen. Anfangs war ihre Stimme so leise, dass er nichts hören konnte. Vorsichtig beugte er sich ein Stück vor, noch immer auf der Hut vor ihr, obwohl er wusste, dass sie im Sterben lag. Ihr Atem stank nach Verwesung, aber diesmal verstand er, was sie sagte.
    »Danke«, flüsterte sie, dann erschlaffte ihr Körper, und sie zerfiel vor seinen Augen zu Staub.
    Und als sie verschwand, begannen die Ranken zu welken und zu verdorren, und die Überreste der Ritter fielen scheppernd zu Boden. David lief zu Roland. In seinem Körper war fast kein Blut mehr. David hätte gern um ihn geweint, aber es kamen keine Tränen. So schleppte er stattdessen Rolands Leichnam die Stufen hinauf und bettete ihn mit einiger Mühe auf den steinernen Altar. Dasselbe tat er auch mit Raphael, sodass die beiden Seite an Seite lagen. Er legte ihnen das Schwert auf die Brust und faltete ihre Hände über dem Griff, so wie er es auf Abbildungen toter Ritter in seinen Büchern gesehen hatte. Er hob sein eigenes Schwert auf und schob es in die Scheide, dann nahm er eine der Lampen aus ihrer Halterung und machte sich auf den Rückweg zur Treppe. Der lange Flur mit den vielen Türen war verschwunden, und an seiner Stelle waren nur noch staubige Steine und bröckelnde Mauern. Als David nach draußen trat, sah er, dass auch hier die Dornenranken verdorrt waren, und alles, was blieb, war eine alte Festung, verlassen und verfallen. Jenseits des Tores, bei dem erloschenen Feuer, wartete Scylla auf ihn. Sie wieherte vor Freude, als sie ihn herauskommen sah. David strich ihr über die Stirn und flüsterte ihr ins Ohr, was ihrem geliebten Herrn zugestoßen war. Dann schwang er sich in den Sattel und lenkte sie auf den Wald und die Straße nach Osten zu.
    Alles war still, als sie zwischen den Bäumen hindurchkamen, denn die Wesen, die in den Stämmen hausten, hörten David und fürchteten sich vor ihm. Sogar der Krumme Mann, der auf seinen Aussichtspunkt auf dem höchsten Ast zurückgekehrt war, betrachtete den Jungen jetzt mit anderen Augen und überlegte, wie er diese neueste Entwicklung zu seinem Vorteil nutzen konnte.

26
    Von zwei Getöteten und zwei Königen
     
     
     
    David und Scylla folgten der Straße nach Osten. Davids Augen blickten geradeaus, aber sie nahmen kaum etwas von dem wahr, was vor ihnen lag. Scylla trug den Kopf tiefer als zuvor, als trauere auch sie auf ihre stille, würdevolle Weise um ihren Herrn. Der Schnee leuchtete matt in der ewigen Dämmerung, und von den Bäumen und Sträuchern hingen Eiszapfen wie gefrorene Tränen.
    Roland war tot. Und Davids Mutter ebenfalls. Es war töricht gewesen, etwas anderes anzunehmen. Während das Pferd ihn durch diese kalte, dunkle Welt trug, gestand David sich zum ersten Mal die Wahrheit ein: Im Grunde hatte er immer gewusst, dass seine Mutter tot war. Er hatte nur etwas anderes glauben wollen. Es war wie mit den Regeln, die er während ihrer Krankheit angewendet hatte, um sie am Leben zu halten. Nichts als falsche Hoffnungen, Träumereien, ebenso unwirklich wie die Stimme, der er hierher gefolgt war. Er konnte die Welt, die er verlassen hatte, nicht verändern, und auch diese Welt, die ihn mit dem Versprechen gelockt hatte, dass die Dinge anders sein könnten, hatte sich als trügerisch erwiesen. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Wenn der König ihm nicht helfen konnte, musste er sich eben auf den Handel mit dem Krummen Mann einlassen. Er brauchte ja nichts weiter zu tun, als Georgies Namen laut auszusprechen.
    Aber hatte der Krumme Mann ihm nicht gesagt, alles könne wieder rückgängig gemacht werden? Das war eine Lüge. Davids Mutter war tot, und die Welt, der sie angehört hatte, war mit ihr gestorben. Selbst wenn er zurückging, würde seine Mutter nur eine Erinnerung sein. Zuhause war jetzt ein Ort, den er mit Rose und Georgie teilte, und er würde das Beste

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