Das Buch der verlorenen Dinge
schnüffelte prüfend die Luft im Tunnel. Die Witterung des Krummen Mannes war da, aber sie wurde bereits schwächer. Er entfernte sich von ihnen.
Leroi kniete sich hin und musterte das Loch, dann blickte er zu den Hügeln, hinter denen die Burg lag. Er überlegte, was er tun sollte. Trotz seiner Prahlereien wurde es immer unwahrscheinlicher, dass es ihnen gelang, einen Weg durch die Mauern zu finden. Und wenn sie nicht bald angriffen, würde seine Wolfsarmee noch unruhiger und hungriger werden, als sie es ohnehin schon war. Rivalisierende Rudel würden aufeinander losgehen, die Schwächeren würden von den anderen gefressen werden, und die restlichen würden in ihrer Raserei gegen Leroi und die übrigen Loups rebellieren. Nein, er musste etwas tun, und zwar bald. Wenn es ihm gelang, die Burg einzunehmen, konnte seine Armee sich an den Verteidigern satt fressen, während er und seine Loups die neue Ordnung planten. Vielleicht hatte der Krumme Mann einfach seine Fähigkeiten überschätzt, als er sich über den Tunnel nach draußen geschlichen hatte, in der Hoffnung, ein paar von den Wölfen zu töten, womöglich sogar Leroi selbst. Was immer seine Gründe gewesen sein mochten, Leroi hatte die Chance bekommen, auf die er schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Der Tunnel war eng, sodass immer nur ein Loup oder Wolf hinter dem anderen hineinpasste, dennoch konnte er auf diesem Weg ein paar seiner Soldaten in die Burg schleusen, und wenn es ihnen gelang, zum Tor vorzudringen und es von innen zu öffnen, konnten die Verteidiger rasch überwältigt werden.
Leroi wandte sich zu einem seiner Leutnants. »Sende einen kleinen Trupp zur Burg, um die Wachen auf der Burgmauer abzulenken«, befahl er. »Bring die Hauptstreitkräfte in Stellung, und schick mir meine besten Grauen her. Wir greifen an!«
31
Von der Schlacht und dem Schicksal derer,
die König sein wollten
Der König saß zusammengesunken auf dem Thron, das Kinn auf der Brust. Er sah aus, als schliefe er, doch beim Näherkommen sah David, dass die Augen des alten Mannes offen waren und mit leerem Blick zu Boden starrten. Das Buch der verlorenen Dinge lag auf seinem Schoß, und die Hand des Königs ruhte auf dem Einband. Vier Wachen waren um ihn herum postiert, einer an jeder Ecke des Podests, und an den Türen und oben auf der Galerie standen noch mehr. Als der Hauptmann David zum Thron führte, blickte der König auf, und der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ David das Blut in den Adern gefrieren. Es war der Ausdruck eines Mannes, dem man mitgeteilt hatte, die einzige Möglichkeit, der Hinrichtung zu entgehen, bestünde darin, einen anderen davon zu überzeugen, seinen Platz einzunehmen, und in David schien der König diesen anderen gefunden zu haben. Der Hauptmann blieb vor dem Thron stehen, verneigte sich kurz und zog sich zurück. Der König befahl den Wachen, sich ein Stück zu entfernen, damit sie nicht hören konnten, was gesprochen wurde, dann bemühte er sich, eine freundliche Miene aufzusetzen. Doch seine Augen verrieten ihn: Sie waren verzweifelt, feindselig und hinterlistig.
»Ich hatte gehofft«, begann er, »dass wir uns unter besseren Umständen unterhalten könnten. Wir sind zwar umzingelt, aber es gibt keinen Grund zur Sorge. Das da draußen sind nur Tiere, und wir werden ihnen immer überlegen sein.«
Er winkte David mit dem Finger zu sich. »Komm ein wenig näher, mein Junge.«
David stieg die Stufen hinauf. Sein Gesicht war jetzt auf einer Höhe mit dem des Königs. Der König strich zärtlich über die Lehnen des Throns, wobei seine Finger hier und dort auf einem besonders kunstvollen Detail der Verzierung oder einem Rubin oder Smaragd verweilten.
»Ist es nicht ein wundervoller Thron?«, fragte er.
»Ja, sehr schön«, erwiderte David, und der König warf ihm einen scharfen Blick zu, als sei er nicht sicher, ob der Junge sich über ihn lustig machte. David ließ sich nichts anmerken, und der König beschloss, über seine Antwort hinwegzugehen.
»Vorn Anbeginn aller Zeiten haben die Könige und Königinnen des Reiches auf diesem Thron gesessen und von hier aus das Land regiert. Und weißt du, was ihnen allen gemeinsam war? Ich werde es dir sagen: Sie kamen aus deiner Welt, nicht aus dieser. Aus deiner Welt, die auch meine war. Wenn ein Herrscher stirbt, übertritt ein anderer die Grenze zwischen den beiden Welten und nimmt seinen Platz auf dem Thron ein. So ist es hier immer gewesen, und es ist eine große Ehre, erwählt
Weitere Kostenlose Bücher